Steilufer
gewesen, sodass es schon ein Glücksfall war, dass die beiden Kinder darauf gestoßen waren. Klar war jetzt, dass Fouhad Ferhati damit keinen Unfall gehabt hatte. Jemand hatte den Roller in dem Versteck deponiert, in der Absicht, ihn irgendwann auch wieder zu benutzen, ob Ferhati selbst oder ein anderer, war die Frage. Den Schlüssel jedenfalls hatte dieser jemand abgezogen und mitgenommen.
Der Bauernhof, gar nicht weit von der Fundstelle entfernt, gehörte einem Biobauern, bei dem im Sommer immer viele junge Leute, meist Studenten, arbeiteten. Sie wohnten teils in einem großen Zelt, teils in einer Scheune, hatten nichts gehört noch gesehen, weder von Ferhati noch von seinem Motorroller, wie ihre Befragung ergab. Die Spurensicherung hatte noch am Abend unter Einsatz starker Scheinwerfer die Fundstelle abgesucht, war aber weder auf Spuren für einen Kampf noch auf sonstige weiterführende Hinweise gestoßen. Trotzdem war für heute Morgen ein Trupp mit Suchhunden in das Waldstück beordert, um nach dem Vermissten zu suchen. Der Motorroller war zur labortechnischen Untersuchung nach Lübeck transportiert worden.
Georg Angermüller klopfte sich mit den Händen sanft ein erfrischendes Rasierwasser ins Gesicht. Der Tag versprach, spannend zu werden. Heute war endlich auch mit dem Ergebnis der DNA-Analyse aus Kiel zu rechnen. Für den Nachmittag hatte er eine Teamsitzung angesetzt, in der alle ihre gesammelten Informationen zusammentragen würden und irgendwie meinte er zu spüren, dass die Ermittlungen an einem Wendepunkt angelangt waren. Gut gelaunt bereitete er das Frühstück, deckte den Tisch auf der Terrasse und legte Astrid, die erst später aufstehen musste, einen Zettel auf den Teller, dass er sich auf einen ruhigen Abend im Garten mit ihr freue. Er schnitt noch eine von Astrids Rosen ab, legte sie auf ihren Platz und holte sein Fahrrad aus dem Keller, das dort seit einer Tour mit den Mädchen am 1. Mai unbenutzt gestanden hatte und jetzt etwas Luft in die Reifen brauchte. Dann machte er sich auf den Weg in die Possehlstraße.
»Wie seh ich aus?«
Anna stand in der Eingangshalle des Restaurants, drehte sich nach rechts und nach links vor einem der großen Wandspiegel und begutachtete mit kritischen Blicken ihr Abbild. Es war kurz vor 9 Uhr am Morgen und sie musste sich beeilen, denn heute hatte sie endlich eine Verabredung mit dem Leiter der Bank, um über eine Ausweitung ihres Kreditrahmens zu verhandeln. Ihr wäre es lieber gewesen, Yann hätte diesen Termin wahrgenommen. Doch er fühlte sich mit seinen Deutschkenntnissen, besonders was große, zusammengesetzte Zahlen betraf, bei so einem existenziellen Thema nicht sicher genug. Außerdem meinte er, der Charme einer Frau sei immer noch das beste Argument, das Herz eines kühl kalkulierenden Bankmenschen zu erweichen und deshalb sollte Anna allein die Verhandlungen führen.
»Ravissante! Er wird für dich seinen Tresor leerräumen!«
»Das wäre schön! Aber ich fürchte, du übertreibst, Yann!«
»Nein, wirklich! Du siehst fantastisch aus!«
Anna, die man nur in Hosen und schlabbrigen T-Shirts oder in ihrer Kochkleidung kannte, trug ein helles Leinenkostüm, das geschickt ihre etwas rundliche Figur betonte, ohne sie dick aussehen zu lassen. Hier und da fielen ein paar blonde Locken aus den hochgesteckten Haaren in ihr Gesicht und eine schlichte Perlenkette, ein Erbstück ihrer Mutter, schmückte dezent ihren Hals. Die hochhackigen, schwarzen Schuhe ließen sie größer erscheinen und vervollständigten ihre elegante Erscheinung. Es war Yann anzusehen, dass die Komplimente, die er seiner Partnerin machte, absolut ehrlich gemeint waren.
»Wünsch mir Glück! Ich muss los!«
Anna klemmte sich die schwarzlederne Aktentasche unter den Arm und warf einen letzten Kontrollblick in den Spiegel. Ja, sie sah wirklich wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau aus – zumindest stellte sie sich die so vor.
»Je touche du bois!«
Yann klopfte sich dreimal an den Kopf, nahm Anna bei den Schultern und küsste sie auf beide Wangen.
»Es wird klappen!«
»Bien sûr! Bis später!«
Als Anna das Haus verlassen hatte, ahnten sie noch nichts. Erst als Yann für sich, Lionel und Jakob, der bei seinem Freund übernachtet hatte, den Tisch für ein ausgiebiges Ferienfrühstück deckte und von der Terrasse mit dem leeren Tablett zurückkam, sah er es: Leuchtend rot auf der roséfarbenen Front des ›Floric‹ prangte unterhalb der Fenster ein Hakenkreuz und daneben
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