Steilufer
gerne noch einmal mit allen sprechen, die sich heute Nacht hier aufgehalten haben.«
Angermüller und Jansen wurde nur bestätigt, was die Kollegen vom K5 bereits festgestellt hatten: Es gab keine Zeugen. Weder Yann Tanguy noch Hadi und Djaffar aus der Remise hatten irgendetwas Verdächtiges in der vergangenen Nacht bemerkt. Omar Chabi war gar nicht anwesend. Er war am Tag zuvor zu Freunden nach Lübeck gefahren und wurde nicht vor dem nächsten Abend zurück erwartet.
Als die Kommissare sich verabschieden wollten, fanden sie Anna Floric und Yann Tanguy unter einem Sonnenschirm auf der Terrasse, wo die Kinder an einem reich gedeckten Tisch ihr verspätetes Frühstück einnahmen. Sie saßen zwischen großen Terrakottatöpfen mit Oleander und Lavendel, im Hintergrund an der Balustrade standen die Kübel mit den Palmen, die sich leise im Wind bewegten – der Anblick war so perfekt wie ein Foto aus einem Reiseprospekt für die Provence.
»Na, ihr habts gut, was?«, sprach Angermüller die Kinder an, die beide mit vollen Backen kauten. »Sitzt an diesem tollen Platz und könnt speisen wie die Könige! Der sieht ja lecker aus!«
Der Kommissar deutete auf den Kuchen, an dem sich Lionel und Jakob gütlich taten.
»Das ist ein Quatre Quarts!«, sagte Lionel mit vollem Mund, sodass die Krümel flogen, was seinen Freund wiederum so zum Lachen brachte, dass auch bei ihm die Brösel stoben. Wie gut, dachte Angermüller, dass die Kinder noch in ihrer eigenen Welt leben, diesen Schmutz an der Wand schon wieder beiseitegeschoben haben und sich mit so kleinen Dingen köstlich amüsieren können.
»Jungs!«, mahnte Anna Floric die beiden, aber auch ihr war anzumerken, dass sie das Amüsement der Kinder mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Sie selbst schien sich auch wieder beruhigt und den ersten Schrecken überwunden zu haben.
»Was ist das für ein Kuchen?«
»Der kommt aus der Bretagne, wo wir früher gewohnt haben. Der schmeckt sehr lecker. Wollen Sie mal probieren?«
Lionel nahm ein großes Stück von der Kuchenplatte und hielt es Angermüller hin.
»Setzen Sie sich doch. Im Stehen isst es sich nicht gut, möchten Sie auch ein Stück?«, fragte Anna Floric. Jansen winkte dankend ab, aber die beiden Beamten nahmen am Tisch Platz und Angermüller verzehrte mit Appetit den duftenden, lockeren Kuchen.
»Mmh, da schmeckt man reichlich die gute Butter!«
»Ja, wir Bretonen lieben unsere gesalzene Butter! Das merkt man vielen Gerichten an, die aus der Bretagne kommen. Kein Wunder, wir haben ja auch das beste Salz und die beste Butter, die es gibt!«
Deutlich hörte man die Verbundenheit Anna Florics zu dem Landstrich ihrer Herkunft. Auch Yann Tanguy nickte voller Überzeugung.
»Und Sie, Herr Tanguy, vermissen Sie denn nicht Ihre Heimat?«, wollte Angermüller wissen. Yann schien etwas überrascht über diese persönliche Frage. Er zuckte mit den Achseln.
»Ach, wissen Sie, Heimat ist, da, wo die Menschen leben, die man liebt, und in der Bretagne gibt es für mich niemanden mehr.«
Anna Floric spielte konzentriert an einer Serviette.
»Und die Sprache, die Landschaft? Fehlt Ihnen das nicht manchmal?«
»Ah, non! Ich finde es gut, noch einmal etwas Neues angefangen zu haben, um es mit Edith Piaf zu sagen: Je ne regrette rien. Ein eigenes Restaurant war immer Teil meines Lebenstraumes und dieser Teil ist wahr geworden. Zurzeit läuft alles wunderbar! Gerade hat meine kluge Partnerin erfolgreich mit der Bank verhandelt, was unseren finanziellen Spielraum beruhigend vergrößert. Langsam gehen alle meine Wünsche in Erfüllung.« Yanns Blick streifte Anna. »Das Einzige, was mir und auch Anna hier manchmal fehlt, ist das Meer!«
»Na, na! Sie haben doch unsere schöne Ostsee vor der Tür!«, warf Jansen ein, ganz Lokalpatriot.
»Pah! Die Ostsee, ein Meer! Im Vergleich zum Atlantik ist das doch ein Meerchen!«
Durch Yanns französischen Akzent klang das wie ›Märschen‹ und Angermüller musste lachen. Jansen brummelte einen leisen Protest. Angermüller fand diesen Yann Tanguy ganz sympathisch. Der Mann musste in seinem Alter sein. Auch wenn er schüchtern wirkte, was an seinen nicht ganz perfekten Deutschkenntnissen liegen mochte, strahlte er auch in dieser eher unschönen Situation eine freundliche Gelassenheit aus. Angermüller dachte, dass seine ruhige, zurückhaltende Art sich gut mit dem offenen, geradlinigen Wesen Anna Florics ergänzte und er fragte sich nicht zum ersten Mal, in welchem Verhältnis die
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