Steilufer
habe ich dir vorgestern Abend gesagt: Du handelst verantwortungslos, weil du dich gar nicht zuständig fühlst!«
»Aber ihr hättet mich doch anrufen können!«
»Ach, Georg!«, Astrid seufzte hoffnungslos. »Ich dachte, du steckst mal wieder in irgendwelchen wichtigen Ermittlungen und es stimmt ja, die Kinder können auch mal allein bleiben. Aber sie waren natürlich enttäuscht. Sie hatten sich so auf den Abend mit dir gefreut. Ich habe dann halt ein paar Pizzen für sie in den Ofen geschoben.«
Als Georg erneut zu widersprechen versuchte, ging sie überhaupt nicht darauf ein.
»Ich kann das nicht mehr hören! Ich weiß, dass du die Dinge einfach vergisst, aber so geht das nicht! Du bist auch verantwortlich! Was glaubst du, wie deine Kinder heute den Tag verbringen? Wer hat dafür gesorgt, dass sie heute Nachmittag mit meiner Schwester an den Strand fahren können, wenn wir beide arbeiten? Wer hat ihre Reise ins Zeltlager nächste Woche organisiert? Weißt du, welche von ihren Freunden jetzt verreist sind und welche nicht, mit wem sie sich in den Ferien mal verabreden können? All das inte-
ressiert dich überhaupt nicht!«
»Na ja, bisher hast du das ja auch immer alles gemacht, ganz toll gemacht übrigens, wenn ich das mal sagen darf. Ich müsste mich ja auch erst einmal einarbeiten.«
»Quatsch! Interessieren müsstest du dich mal dafür, das ist alles! Um deine Mutter und deine Schwester kümmerst du dich ja auch nicht, wenn ich dich nicht ab und zu daran erinnere! So – und jetzt sag ich nichts mehr. Ich habe keine Lust, ewig über die gleichen Dinge zu debattieren.«
Und so war es dann auch. Als Georg Vorschläge machte, was er mit Julia und Judith am Wochenende unternehmen könnte und auch sonst versuchte, guten Willen zu zeigen, lächelte Astrid nur müde und blieb stumm. Mit diesem Verhalten konnte er noch weniger umgehen. Er liebte zwar den lauten Streit nicht, doch wenn es gar keinen Dialog mehr gab, wenn ihm nur noch Schweigen entgegengebracht wurde, dann irritierte ihn das. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, wenn seine Mutter ihn mit Schweigen bestrafte, wenn er böse gewesen war, wie sie sagte. Ach ja, und heute war seine Mutter eine alte Frau, um die er sich viel zu selten kümmerte – da hatte Astrid leider recht. Wie es der Mutter wohl ging? Marga hatte ja versprochen, sich zu melden. Wenn er bis zum Nachmittag nichts gehört hatte, würde er noch einmal versuchen, sie zu erreichen.
Trotz allem fand er es unfair, so behandelt zu werden. Er schwor sich, dass er ihr keinen Anlass zu solchen Diskussionen mehr liefern würde und er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit etwas mit den Kindern zu unternehmen, denn natürlich war er gerne mit den beiden zusammen. Bald würden sie ohnehin Besseres zu tun haben, als ihre Zeit mit Mami und Papi zu verbringen. Vielleicht sollte er mit ihnen wieder einmal in den großen Vergnügungspark nach Sierksdorf – er hasste zwar derlei Freizeitgestaltung, aber die Zwillinge fanden es immer ›obercool‹. Oder sie könnten bei diesem schönen Wetter einfach an den Strand gehen. Er würde einen leckeren Picknickkorb packen. Wie so oft holte ihn die Melodie seines Diensthandys aus seinen Gedanken und beim Blick auf das Display fragte er sich, was wohl so Besonderes sein könnte, dass Jansen sich bereits vor Dienstbeginn bei ihm meldete.
Sanfte Erhebungen mit sattgrünen Wiesen, silbriggrün wogende Getreidefelder, an den Rändern gesäumt von Kornblumen, Margariten und Mohn, dazwischen immer wieder Knicks aus Büschen und Hecken und darüber das klare Blau des Himmels – lautlos flog die ostholsteinische Landschaft im hellen Sonnenschein vor den Autofenstern vorbei. Der Inbegriff eines Sommertages. Im Innern des Audis rauschte leise die Klimaanlage und Jansen und Angermüller schwiegen vor sich hin.
Der Anruf war vor etwa einer Stunde eingegangen: Holzarbeiter in einem Waldstück südlich von Ratekau hatten geglaubt, eine Leiche unter einem Stapel Baumstämme entdeckt zu haben. Kurz darauf meldete sich die Streife, die zuerst vor Ort war, die Person sei ein Mann und gebe Lebenszeichen von sich, wenn auch sehr schwache. Der Audi bog in einen für den öffentlichen Verkehr gesperrten Wirtschaftsweg ein, der in einen dichten Laubwald führte. Nach ein paar 100 Metern wurde der Weg etwas breiter und schien hier zu enden. Rot-weißes Band versperrte die Durchfahrt und erst als sie ihre Dienstausweise zeigten, ließen sie die dort postierten
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