Stein und Flöte
Ton erklingt, und das ist schnell geschehen. Spielen mußt du dann selber lernen, und dazu wirst du sehr viel länger brauchen, als ich noch Zeit für dich habe.«
»Wird es so ähnlich sein wie bei Barlos Flötenstunden?« fragte Lauscher.
»Nein«, sagte der Großvater. »Meine Silberflöte ist von andrer Art als Barlos hölzernes Instrument. Wenn du erst einmal die Töne greifen kannst, wird die Flöte deine Gedanken von selbst zum Klingen bringen. Und sie wird jeden, der sie hört, zu dem verleiten, was du beim Spielen im Sinn hast. Vergiß das nie! Du mußt wissen, daß mit der Weitergabe der Flöte eine Bedingung verknüpft ist: Dem Erben darf nur die Griffweise erklärt werden; was er dann auf der Flöte spielt, muß er selbst bestimmen. Mein Unterricht wird also kurz sein.«
Nach diesen Worten stand der Sanfte Flöter auf, holte von einem Wandregal seine silberne Flöte und gab sie seinem Enkel in die Hand. Jetzt hatte Lauscher Gelegenheit, sie in Ruhe aus der Nähe zu betrachten. Sie war aus einem Stück und sah so glatt und vollkommen aus, als sei sie nicht von Menschenhand gemacht, sondern von selbst gewachsen wie der Stengel einer Blume. Als einziger Schmuck zierte das silberne Rohr am unteren Ende ein fein ziselierter fünffacher Ring. Lauscher entdeckte, daß dieses Muster aus winzigen Buchstaben bestand, mit denen hier ein Vers eingraviert war:
Lausche dem Klang
folge dem Ton
doch übst du Zwang
bringt mein Gesang
dir bösen Lohn
Nachdem er diesen Text entziffert hatte, fragte Lauscher: »Wie ist das zu verstehen, daß der Spieler der Flöte keinen Zwang ausüben soll? Du hast ja selbst gesagt, daß ihr Klang jeden Zuhörer zu dem verleitet, was der Spieler dabei im Sinn hat.«
»Das habe ich mich anfangs auch gefragt«, sagte der Sanfte Flöter. »Aber auch das gehört zu den Dingen, die du selber herausfinden mußt. Jetzt gib acht, wenn ich dir die Griffe erkläre.« Und so erhielt Lauscher seinen ersten Unterricht. Er wunderte sich, wie leicht es ihm fiel, die einzelnen Töne zu finden, ja es schien ihm fast, als würden seine Finger wie von selbst zu den richtigen Grifflöchern geführt. Schon an diesem ersten Nachmittag gelang es ihm mühelos, die sieben Grundtöne des Instruments zu beherrschen. Als er jedoch anfing, eine Melodie zu spielen, die ihm eben in den Sinn kam, nahm ihm der Sanfte Flöter das Instrument aus der Hand und sagte: »Laß das! Damit mußt du warten, bis ich nicht mehr hier bin. Für heute ist es genug. Ich muß mich jetzt ein bißchen hinlegen, denn ich bin sehr müde.«
Auch Lauscher ging an diesem Tag früh schlafen. Er freute sich darauf, nach den Nächten unter freiem Himmel wieder in einem richtigen Bett zu liegen. Im Einschlafen malte er sich aus, wie es sein würde, wenn er als Flöter nach Fraglund zurückkehrte. Sein Vater würde anerkennen müssen, daß er es zu etwas gebracht hatte, und der Große Brüller würde bald erfahren, wie nützlich es war, einen solchen Flöter im Haus zu haben, vor allem dann, wenn die Beutereiter wieder ins Land einfallen sollten. Lauscher sah sich dem Heerzug des Großen Brüllers voranreiten und im Angesicht des Feindes seine Flöte spielen. Da würden die Fraglunder staunen, wenn die wilden Reiter plötzlich ihre struppigen Gäule anhielten und ihre Waffen senkten. Doch ehe sich dieses Bild weiter verdichtete, schlief Lauscher ein und wachte erst am nächsten Morgen auf, als schon die Sonne durchs Fenster schien.
Im Hause war noch alles still. Er ging hinunter in die Küche, fachte das Feuer im Herd an und stellte das Teewasser auf. So gebrechlich war sein Großvater offenbar nicht, daß er in der Küche nicht für Ordnung sorgte. Alles stand auf seinem richtigen Platz: Brot, Butter, Honig, Käse, Tassen und Teller, genau wie damals, als seine Großmutter hier noch das Regiment geführt hatte. Lauscher deckte den Tisch, und durch das Klappern des Geschirrs war dann auch sein Großvater aufgewacht und kam herein, wie Lauscher eben den Kräutertee abgoß.
»Das hat mir in letzter Zeit gefehlt«, sagte der Sanfte Flöter, »dieses Töpferücken am Morgen, das Klirren von Tassen und der Duft nach Tee, der durch das ganze Haus zieht. Da fällt mir das Aufstehen gleich nicht mehr so schwer.« Er warf einen Blick auf den Frühstückstisch und sagte noch: »Als Diener warst du offenbar ganz brauchbar.«
»Hoffentlich werde ich das auch als Flöter sein«, sagte Lauscher.
»Brauchbar?« wiederholte sein Großvater, als sei
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