Stein und Flöte
obwohl er inzwischen festgestellt hatte, daß er keineswegs nackt und unbedeckt auf seinem Laubbett lag. Er zog die Decke fester um die Schultern, griff mit der Linken in Jalfs Fell und spürte die beruhigende Wärme des Tieres. So schlief er wieder ein und wachte erst vom Morgenlied einer Amsel auf, die dicht über ihm auf dem Zweig einer Haselstaude saß.
Sobald er die Augen aufgeschlagen hatte, flatterte der Vogel von seinem Zweig herunter auf den Boden und flötete einen Dreiklang, den Lauscher schon gehört hatte. »Guten Morgen, Botin des Sanften Flöters!« sagte er. »Da hast du mich also schon wieder aufgespürt.«
Die Amsel legte ihren Kopf schief, blickte ihn mit ihren glänzenden schwarzen Augen an und flötete eine kurze Tonfolge, die ein wenig ungeduldig klang. »Du meinst wohl, es sei höchste Zeit aufzustehen?« sagte Lauscher, und als Antwort ließ die Amsel wieder ihren Dreiklang hören, flatterte ein Stück auf dem Weg nach Westen und kam dann zurück. »Hast du’s aber eilig!« sagte Lauscher. »Doch bevor wir uns auf den Weg machen, wirst du wohl noch mein Frühstück mit mir teilen.«
Diesen Vorschlag hielt die Amsel allem Anschein nach für annehmbar, denn sie kehrte auf ihren Haselzweig zurück und schaute erwartungsvoll zu, wie Lauscher seinen Mundvorrat aus der Satteltasche holte. Als er ein Stück Brot zerbröselt hatte und ihr die Krümel hinhielt, hüpfte sie herunter auf seine Hand und pickte so lange, bis nichts mehr da war. Dann aß auch Lauscher sein Frühstück, ließ die Reittiere noch einmal trinken und ritt weiter nach Westen. Die Amsel flog immer ein Stück voran und wartete, bis er sie eingeholt hatte.
Der Weg führte auf einem sanft abfallenden Bergrücken immer weiter dem Tal zu. Links in der Tiefe hörte Lauscher den Bach rauschen, an dessen Ufer er damals durch das Gestrüpp gehetzt worden war. Hier oben kam man rascher voran; doch auch am dritten Tage war der Wald noch immer nicht zu Ende.
Als die Sonne schon tief zwischen den Baumstämmen stand, führte der Weg auf eine kleine Lichtung hinaus, die mit weichem Waldgras bewachsen war, aus dem die braunen Rispen abgeblühter Fingerhutstauden herausragten. Als Lauscher am Rand der Wiese eine Quelle entdeckte, beschloß er, hier über Nacht zu bleiben. Er ließ seine Tiere trinken und dann frei auf der Lichtung grasen. Mit einbrechender Dunkelheit kamen sie von selbst zu ihm zurück und legten sich zum Schlafen nieder. Die Amsel hatte sich wohl in den Büschen einen Platz gesucht, denn Lauscher konnte sie nirgends entdecken.
Aber in der Nacht wurde er von ihrem Gezeter aus dem Schlaf gerissen. »Willst du schon wieder weiter?« fragte er schlaftrunken und setzte sich auf. Es mußte gegen Morgen sein, denn der Himmel war schon blaß, und über dem Gras lagen dünne Nebelschwaden. »So früh kriegst du mich nicht auf die Beine!« sagte Lauscher ärgerlich und wollte sich wieder in seine Decke wickeln, als die Amsel aufs neue anfing zu schimpfen. Jetzt richtete auch Jalf seine Ohren auf und sprang gleich danach auf die Beine. Lauscher spähte hinüber zum Waldrand, von dem das Geschrei der Amsel herübergellte, und da sah er zwischen den Nebelschleiern zwei Grauwölfe stehen.
Wie gebannt starrte er eine Zeitlang in die Augen der Tiere. Jetzt wird es sich zeigen, dachte er, ob ich imstande sein werde, meinen Bogen zu benutzen, und begann vorsichtig im Gras nach der glatten Rundung des Eibenholzes zu tasten. Doch ehe er seinen Bogen packen und einen Pfeil auflegen konnte, sprang der größere der beiden Wölfe schon lautlos auf ihn zu. Lauscher hätte ihn kaum mehr abwehren können, aber der Wolf kam dennoch nicht weit. Das kleinere Tier, eine Wölfin, sprang den Alten knurrend von der Seite an und verbiß sich in seinem Halsfell. Der Wolf wurde herumgerissen und blieb stehen. Lauscher vergaß seinen Bogen und wartete gespannt, was weiter geschehen würde. Der Wolf schüttelte die Angreiferin ab und wendete den Kopf wieder zu der Stelle, an der Lauscher saß. Aber sobald er einen Schritt in diese Richtung machte, stieß die Wölfin ihr kehliges Knurren aus und sprang ihn an. Diesmal hatte sie kräftiger zugebissen, denn der Wolf jaulte auf und wurde fast umgeworfen. Es gelang ihm, seinen Hals freizubekommen, aber ehe er wieder angreifen konnte, hatte die Wölfin einen Halbkreis um ihn geschlagen und stand jetzt auf der Wiese zwischen ihm und Lauscher, die Beine in den Boden gestemmt und mit gesträubtem Nackenfell, als wolle
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