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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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sie diesen Mann, der dort auf der Lichtung saß, um jeden Preis schützen. Der Wolf versuchte es noch ein letztes Mal, doch auch jetzt handelte er sich dabei nur einen Biß ein, der ihn zum Stehen brachte. Lauscher wunderte sich, daß der Wolf sich auf keinen Kampf mit der schwächeren Wölfin einließ; er schüttelte sie jedesmal nur ab, ohne zurückzubeißen. Und diesmal gab er sein Vorhaben ganz auf. Er hob den gewaltigen Schädel, schickte ein langgezogenes Heulen zum Himmel und war mit wenigen Schritten im Wald verschwunden.
    Die Wölfin drehte sich um und richtete ihren Blick auf Lauscher. So stand sie eine Zeitlang bewegungslos, ihr Fell hatte sich geglättet, und aus dem hoch erhobenen Kopf war jeder Ausdruck wölfischer Wildheit gewichen. Lauscher schaute ihr in die saphirblauen Augen und meinte, noch nie ein so schönes Tier gesehen zu haben. »Gisa!« sagte er. Da warf die Wölfin heulend ihren Kopf zurück und lief davon. Nach drei Sprüngen hatten sie die Nebelschwaden verschluckt.
    Jalf hatte sich die ganze Zeit über nicht gerührt. Jetzt trottete er zu seinem Freund und Reiter und schnaubte leise, was wohl so viel heißen mochte wie: Vor dieser Wölfin brauchst du dich nicht zu fürchten. Lauscher kraulte ihn am Hals und machte sich dann sein Frühstück; denn an Schlafen war nun nicht mehr zu denken. Dieser frühe Aufbruch schien auch der Amsel recht zu sein. Sie hatte kaum ihre Krumen aufgepickt, als sie auch schon wieder auf dem Weg voranflatterte. Lauscher begann sich zu fragen, ob sie ausgeschickt worden sei, um ihn möglichst rasch herbeizuholen. Er trieb Jalf zu einer schnelleren Gangart an, soweit dies der Weg zuließ, der jetzt schmaler wurde und in weiten Serpentinen einen felsigen Steilhang hinunterführte. Am Abend gelangte Lauscher wieder in flacheres Gelände, aber er mußte noch einmal übernachten, ehe er dann gegen Mittag des nächsten Tages endlich den Waldrand erreichte und in das grüne Hügelland hinausritt.
    Hier traf er auch wieder auf den Bach, dem er vor drei Jahren gefolgt war, und so fiel es ihm nicht schwer, das Haus seines Großvaters zu finden. Die Amsel war schon vorausgeflogen, sobald er den Wald verlassen hatte. Sie wird dem Sanften Flöter meine Ankunft melden wollen, dachte Lauscher. Und so war es auch; denn sein Großvater stand schon vor der Tür und spähte nach ihm aus, als das Haus unter den drei Linden zwischen den grasigen Hängen auftauchte.
    Während er näher ritt, bemerkte Lauscher, daß sein Großvater sich verändert hatte. Er erschien ihm sehr viel älter als damals, als er ihn zuletzt gesehen hatte. Sein weißes Haar war dünner geworden und hing in wirren Zotteln um den abgemagerten Kopf. Keine Spur war von den rosigen Pausbacken geblieben: Über die knochigen Wangen spannte sich blasse, pergamentene Haut, und der goldene Zwicker schwankte bedenklich auf dem schmaler gewordenen Nasenrücken. Nur die Lachfältchen um die Augen hatten die Zeit überdauert. Der Sanfte Flöter stützte sich mit der Hand am Türstock, als falle es ihm schwer, sich aufrecht zu halten. »Du bist lange ausgeblieben«, sagte er, als Lauscher vor dem Haus von seinem Esel stieg. »Wenn ich nicht auf dich hätte warten müssen, wäre ich wohl nicht mehr hier.«
    Lauscher ging auf ihn zu, umarmte ihn und spürte dabei, wie leicht und zerbrechlich der alte Mann geworden war, der sich mit seinen zierlichen Händen an seiner Schulter festhielt. »Wohin wolltest du gehen, wenn du nicht auf mich gewartet hättest?« fragte Lauscher. Er konnte sich nicht vorstellen, was für eine Reise dieser gebrechliche Greis hätte unternehmen wollen.
    »Dorthin, wo deine Großmutter schon ist«, sagte der Sanfte Flöter lächelnd, als sei dies eine sehr törichte Frage.
    »Ist sie nicht mehr hier?« fragte Lauscher bestürzt; denn er hatte diese resolute Frau trotz ihrer geräuschvollen Art gern gemocht, und das nicht nur wegen ihrer Kochkünste.
    »Nein«, sagte der Sanfte Flöter. »Sie ist mir schon ein Stück vorausgegangen. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich bin froh, daß du da bist, denn nun sollst du mein Erbe antreten. Komm herein in die Stube. Im Kochen kann ich deiner Großmutter zwar nicht das Wasser reichen, aber ein bißchen habe ich ihr schon abgeguckt.«
    Lauscher wollte erst noch seine beiden Reittiere versorgen, doch sein Großvater sagte: »Sattle sie nur ab und laß sie laufen! Gras gibt’s hier in Hülle und Fülle, und am Bach finden sie zu trinken. Morgen kannst du sie

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