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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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und beeilte sich zu beteuern, daß er in dergleichen Herrschaftsrechte nicht einzubrechen gedenke. »Doch in allem anderen sollen mir die Tiere gehorchen wie dir selbst«, sagte er dann. »Vor allem sollen mir die Ziegen jeden Tag etwas von ihrer Milch überlassen, damit auch ich den Winter überlebe.«
    »Also wirst auch du von uns abhängig sein«, sagte der Bock zufrieden. »Da drei meiner Ziegen nicht trächtig sind, kann ich dir diese Zusage machen, und so werde ich um der Herde willen diesen Vertrag mit dir schließen. Du und ich werden ihn beschwören bei dem, was uns am teuersten ist.« Er stemmte seinen heilen Vorderlauf in den Boden, richtete sich mühsam auf und sagte zu seinen Tieren:
    »Ihr habt gehört, was hier besprochen worden ist. Von heute an werde ich meine Herrschaft über die Herde mit diesem Namenlosen teilen, und ihr werdet ihm von eurer Milch abgeben, solange er seine Verpflichtungen erfüllt. Das schwöre ich bei dem einen Horn, was mir noch geblieben ist, und damit ich es nicht vergesse, will ich den Namen annehmen, den dieser hier mir gegeben hat. Nun bist du an der Reihe, Namenloser!«
    Namenlos sollte er nun nicht mehr lange bleiben. Er hatte inzwischen seinen Stein aus dem Beutel genommen, zeigte ihn auf der flachen Hand vor, daß alle sehen konnten, wie der farbige Ring in der Abendsonne aufstrahlte, und sagte: »Ich schwöre bei diesem steinernen Auge, daß ich für die Herde sorgen werde, wie ich es versprochen habe.«
    Der Anblick des Steins ließ selbst die Jungtiere verstummen, die bisher diese feierliche Ziegen-Zeremonie durch ihr vorlautes Gemecker gestört hatten. Alle blickten auf das vielfarbige Leuchten, und dann ließen sich die Ziegen eine nach der anderen ins Gras nieder, als gebe es nun keinen Grund mehr zur Beunruhigung. Aus den gelben Augen Einhorns war jedes Mißtrauen geschwunden. »Diesem Auge vertraue ich mehr als dir«, sagte er. »Du sollst von nun an Steinauge heißen, denn heute ist ein Tag, an dem neue Namen vergeben werden. Nimm das abgebrochene Horn an dich, damit jeder sehen kann, daß du bei uns genauso viel giltst wie ich selbst. Bring mich jetzt in deine Höhle!«
    So kam der Bocksfüßige zu einem neuen Namen. Daß er früher einen andern getragen hatte, war ihm schon aus dem Gedächtnis geschwunden. Es war ja auch niemand da, der ihn so hätte nennen können. Für die Ziegen war er jedenfalls seither kein Fremder mehr, und sie wurden nicht müde, ihn Steinauge zu rufen, als wollten sie sich immer aufs neue seiner Vertrautheit versichern. Gelegenheit dazu gab es zur Genüge, denn Steinauge mußte sich in den folgenden Wochen um alles kümmern, während Einhorn in der Höhle lag und sein gebrochenes Bein auskurierte. Jeden Morgen bekam der Bock sein Futter vorgeschüttet, dann nahm Steinauge seinen Korb, führte die Ziegen zu einem Weideplatz und suchte dann, während die Tiere grasten, ringsum im Wald allerlei Futter zusammen, mit dem er die Herde durch den Winter zu bringen hoffte. Dabei mußte er sie obendrein ständig im Auge behalten, denn ohne die gestrenge Aufsicht ihres Gebieters benahmen sich die Ziegen, eigenwillig wie sie sind, höchst unvernünftig, verliefen sich zwischen Buschwerk und Bäumen, kletterten auf Felsblöcke in der Hoffnung, dort besonders würzige Kräuter zu entdecken, und fanden dann nicht mehr auf den Boden. »Steinauge, hilf mir hinunter!« hieß es dann, »Steinauge, mein Zicklein ist in den Wald gelaufen! Geh es suchen!« oder »Steinauge, komm schnell! In den Sträuchern lauert ein Luchs!« Der vermeintliche Luchs war dann zwar nur eine streunende Wildkatze, aber das Zicklein war tatsächlich schon halbwegs den Hang hinunter durch den Wald gehoppelt, und die verstiegene Ziege mußte er auch in Sicherheit bringen, wenn er nicht noch ein gebrochenes Bein behandeln wollte. Mit einem Wort: er war den lieben langen Tag vollauf beschäftigt, und zwischendurch mußte er, um seine Verpflichtungen zu erfüllen, noch Eicheln und Bucheckern sammeln, Holzäpfel und Vogelbeeren, ja alles, was ihm für einen Ziegenmagen verdaubar schien. Dafür bekam er dann am Abend auch seine Milch, aber er war fast zu müde, die Holzschale auszutrinken, die er sich für diesen Zweck mit seiner Messerklinge geschnitzt hatte. Neben seinem Lager wuchsen jedoch die Vorratsberge, die er Tag für Tag dort aufschüttete, und er genoß diesen Anblick in zunehmendem Maße, ehe ihm die Augen zufielen, während die Ziegen unten in der Höhle auf ihrer

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