Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
Vom Netzwerk:
Laubstreu noch unruhig waren und mit weit geöffneten Augen in die Glut des unvertrauten Feuers starrten, das ihnen die Wärme des Sommers zurückbrachte, ohne daß die Sonne am Himmel stand.
    Eines Morgens schien sie überhaupt nicht mehr aufzugehen. Steinauge erwachte vom Gezeter der Ziegen, die irgendwo unten in der Finsternis herumtrappelten. Eine von ihnen trat in die unter der Asche schwelende Glut des heruntergebrannten Feuers, Funken stoben auf, und für einen Augenblick sah er die Tiere wie sinnlos herumirrende Schatten durch die Höhle rennen. »Warum schlaft ihr nicht?« sagte er. »Es ist noch lange nicht Morgen.«
    »Es müßte längst Tag sein«, hörte er Einhorn sagen. »Wir spüren das. Aber es will nicht hell werden.«
    Das Feuer war inzwischen wieder zusammengesunken. Steinauge tastete sich über den Abbruch hinunter, stocherte in der Glut, legte ein paar Äste auf und wartete, bis sie hell brannten. Der Schein der Flammen beruhigte die Tiere einigermaßen. Sie drängten sich um den Bock, und in ihren Augen flackerte der Widerschein des Feuers. Unter den erwartungsvollen Blicken seiner Ziegen fühlte Steinauge sich gedrängt, irgend etwas zu unternehmen, und ging zum Ausgang der Höhle. Das Schlupfloch gähnte ihm schwarz entgegen, und als er sich bückte und hinauszukriechen versuchte, merkte er auch, warum das so war. Statt ins Freie zu gelangen, stieß er auf eine eiskalte Mauer. Über Nacht hatte es den Ausgang zugeschneit.
    Für einen Augenblick war die Dunkelheit auch ihm unheimlich geworden, doch jetzt mußte er schon wieder über die ängstlichen Ziegen lachen. Er kroch zurück und sagte: »Soll ich euch das Tageslicht zurückbringen?« Eine Antwort wartete er erst gar nicht ab, sondern riß einen brennenden Ast aus dem Feuer, schwang ihn laut lachend über seinen Kopf, daß die Flammen hell aufloderten und rief: »Komm herbei, Sonne! Meine Ziegen warten auf dich!« Dann bückte er sich in den Durchschlupf und stieß das brennende Holz in die Schneemauer, daß es nur so zischte. Rasch hatte er den Ausgang freigestochen und den restlichen Schnee mit den Händen beiseite geschaufelt, bis er hinauskriechen konnte ins verschneite Gebüsch, aus dem Kaskaden staubfeiner, flirrender Kristalle auf ihn herabrieselten und sein Fell weiß überpuderten. Die Welt hatte jede Farbe verloren. Unter dem milchigen Himmel duckte sich wolkiges Gebüsch, das sich hangabwärts zur weißschäumenden Woge des Waldes auftürmte. Nun war der Winter da.
    Inzwischen drängten sich auch die Ziegen aus dem freigeschaufelten Schlupfloch und schüttelten sich den Schnee aus dem Fell. Sie sammelten sich um Steinauge wie um ihr Leittier und starrten ihn bewundernd mit ihren bernsteingelben, glänzenden Augen an. Schließlich sagte eine von ihnen: »Du hast große Macht, Steinauge, daß du uns den hellen Tag zurückbringen konntest. Aber nun hat es geschneit, und wir werden kein Futter mehr finden.«
    »Kommt!« sagte Steinauge nur und stapfte ihnen voran durch den tiefen Schnee. Er hatte mit dergleichen gerechnet und sich in den vorangegangenen Tagen ein paar übergraste Geländewellen eingeprägt, die dem Wind besonders ausgesetzt waren. Bald fand er eine, die fast freigefegt war, und ließ seine Ziegen hier weiden. Wenn die Tiere in Schwierigkeiten kamen, verloren sie leicht den Kopf, aber sobald sie den festen Boden unter der Schneedecke spürten, verstanden sie es, mit ihren scharfen Vorderhufen die Grasnarbe frei zu scharren.
    Während die Ziegen auf solche Weise ihr Futter mühsam aus dem Schnee gruben, blieb Steinauge zwischen den Sträuchern, suchte trockenes Holz zusammen und achtete darauf, daß seine kleine Herde sich nicht zerstreute. Eine Zeitlang beobachtete er einen Falken, der am Himmel kreiste, erst sehr hoch, daß er im Dunst kaum zu erkennen war; später schraubte er sich herunter, als wolle er die Herde genau betrachten, aber zu dieser Jahreszeit waren die Jungtiere schon lange nicht mehr so klein, daß ein Falke ihnen etwas hätte anhaben können. Einmal schoß er dicht über das Gebüsch hinweg, aus dem Steinauge gerade ein paar dürre Äste herausbrach, dann verschwand er nach Süden hinter den verschneiten Baumkronen. Steinauge duckte sich und fühlte sich entdeckt.
    Die Ziegen wurden an diesem Tag nicht satt, denn das gelbe, ausgelaugte Gras hatte keine Kraft mehr in sich. Als er sie gegen Abend in die Höhle zurückgeführt hatte und sich seine Schale voll Milch melken wollte, blickten sie ihn

Weitere Kostenlose Bücher