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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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sie dann mit etwas behinderter Aussprache. »Ich krieche voraus, und du brauchst mir nur zu folgen.«
    Sie wendete den Kopf und tauchte hinunter in die Felsspalte, und nun sah man eine Zeitlang nichts weiter als die bewegliche Schlinge des geschuppten Schlangenkörpers, der auf der einen Seite aus der Tiefe heraufglitt und auf der anderen wieder zwischen den Felsen verschwand. Es war, als wolle diese Schlange kein Ende nehmen, doch endlich erschien ihre Schwanzspitze und glitt zuckend wieder hinab in die Spalte, und sobald sie nicht mehr zu sehen war, folgte ihr der Mäuserich.
    In einer engen Kluft ging es schräg abwärts. Der Mäuserich war erst wenige Schritte vorangekommen, als er von oben den Falken schreien hörte: »Wo bist du, du diebische Maus? Komm aus deinem Versteck! Ich will mit dir reden!«, aber ›Der-dem-Falken-weissagt‹ meinte, nun genug mit diesem Falken gesprochen zu haben, und folgte dem sanften Leuchten, das ihm voraus den steilen Weg schwach erhellte. Es war nicht recht zu entscheiden, ob dieses Leuchten von dem Stein oder von den Augen der Schlange herrührte, jedenfalls zeigte es ihm an, wohin er seine Füße setzen mußte. Zeitweise führte der Abstieg geradewegs in die Tiefe, dann ging es wieder ein Stück eben hin durch einen niedrigen Gang, der nach einer Weile in eine weite Höhle mündete. Die Wände waren von winzigen Kristallen überkrustet, die in allen Farben glitzerten, wenn die Schlange unter ihnen dahinglitt. Irgendwoher aus der Höhe fielen in kurzen Abständen einzelne Tropfen in einen Teich, an dem die Schlange jetzt entlangkroch. Dann verengte sich die Höhle und ging schließlich in eine ausgewaschene, abschüssige Kluft über, auf deren Grund das überschüssige Wasser aus dem Teich in die Tiefe rauschte. Der Schlange machte das nichts aus, aber der Mäuserich bekam nicht nur nasse Füße, sondern sah bald aus wie aus dem Wasser gezogen und hatte Mühe, daß ihn die Strömung nicht mit sich fortriß. Endlich wurde das Gefälle flacher, und gleich darauf floß der Bach hinaus auf einen ebenen Höhlengrund, stürzte noch einmal über eine Stufe hinab und sammelte sich in einem runden Becken.
    Als er mit glitschenden Pfoten den letzten Felsabsatz hinuntergeschlittert war, traf der Mäuserich auf die Schlange, die sich auf dem Höhlengrund zusammengerollt hatte und auf ihn wartete. Vor ihr auf dem felsigen Boden lag der Stein. Aus einer Öffnung in der gegenüberliegenden Wand drang rötliches Abendlicht herein, das den hohen, kuppelförmigen Raum nur noch schwach erhellte, aber der Stein fing selbst diesen letzten Widerschein der Sonne noch auf und ließ sein Farbenspiel glühen.
    »Wir sind am Ziel«, sagte die Schlange. »Dort drüben kommst du hinaus auf den Hang unter der Felswand. Aber ich würde dir raten, zu warten, bis es ganz dunkel geworden ist, sonst erwischt dich doch noch dieser Falke.«
    Der Mäuserich schüttelte sich die Nässe aus dem Fell, hob schnüffelnd die Nase und sagte: »Hier riecht es nach Ziegen.«
    »Das ist kein Wunder«, sagte die Schlange. »In der Nähe gibt es eine Ziegenherde, die den Winter hier zu verbringen pflegt. Und auch der Träger des Steins hat hier drei Winter lang gehaust, ehe ihm der Falke seinen Stein abschwatzte.«
    »Ob er wieder hierher zurückkommt?« fragte der Mäuserich.
    »Nicht so bald, fürchte ich«, sagte die Schlange.
    Von da an saßen sie schweigend einander gegenüber, bis der letzte Schimmer von Tageslicht erloschen war. Dann sagte die Schlange: »Jetzt kannst du deine Leute herbeipfeifen, ›Der-dem-Falken-weissagt‹.«
    Da packte der Mäuserich den Stein, rollte ihn vor sich her bis zum Eingang, trat hinaus in die Nacht und pfiff. Nach wenigen Augenblicken huschten von allen Seiten die Mäuse herbei, versammelten sich im Kreis um ihn und betrachteten staunend den Stein, in dem noch immer ein Rest farbigen Lichts glomm. Und ehe noch einer von ihnen etwas sagen konnte, schob sich hoch über dem jungen Mäuserich der Kopf einer aufgerichteten Schlange aus der Höhle, pendelte hin und her und blickte in die Runde. Alle standen wie erstarrt. Dann öffnete die Schlange ihren weiten Rachen und sagte: »Hört mir zu, denn ich bin Rinkulla, mit der schon früher einmal einer von euch gesprochen hat. Dieser Junge, der hier vor mir steht, ist heute erwachsen geworden und hat den Namen erhalten, der ihm zukommt. Er soll von nun an ›Der-dem-Falken-weissagt‹ heißen; denn er hat diesem zauberischen Vogel oben in der

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