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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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Falken noch nicht erreichen konnte. Er schaute noch einmal in das farbige Leuchten des Steins, und als er wieder aufblickte und dem Falken ohne Zittern in die Augen sah, schien es fast, als sei er ein gutes Stück gewachsen. »Damit magst du recht haben, Falke, daß wir Mäuse zu den Kleinsten und Schwächsten unter den Tieren gehören«, sagte er. »Es könnte aber sein, daß einmal die Stunde kommt, in der den Kleinsten und Schwächsten Gewalt gegeben wird über die großen Räuber, die ihnen zeitlebens nachgestellt haben. Wir Kleinen freuen uns an der Wärme der anderen, die neben uns in unserer Höhle schlafen, und finden unsere Kraft in dieser Gemeinschaft.« Er sprach jetzt mit singender, hoher Stimme wie einer, der im Traum spricht. »Du aber, Falke, bist allein und wirst einsam bleiben dein Leben lang, und der Himmel wird leer um dich sein, wenn du über den Wäldern deine Kreise ziehst. Und dies wird geschehen, weil du das Geheimnis dieses Steins mißachtet hast.«
    Der Falke wich zurück, und einen Augenblick lang sah es so aus, als fürchte er sich vor diesem Mäusejungen, der hier unversehens in solch feierliche Weissagung verfallen war. Doch dann packte ihn besinnungslose Wut, und er hackte kreischend auf das zerfaserte Wurzelwerk ein, als könne er diese Rede dadurch ungesprochen machen, daß er diesen Winzling umbrachte. Der Mäusejunge betrachtete jetzt den rasenden Vogel wie einen besiegten Feind und schien sich überhaupt nicht mehr zu fürchten. Doch gleich darauf geschah etwas, das ihn völlig aus der Fassung brachte. Er hörte hinter sich ein schabendes Geräusch, und als er sich umdrehte, sah er, wie aus der Tiefe der Felsspalte der Kopf einer Schlange hervorglitt. Er preßte den Stein an seine graupelzige Brust und blickte entsetzt in die achatfarbenen Augen der gewaltigsten Ringelnatter, die er je gesehen hatte.
    »Das war tapfer und weise gesprochen, Junge«, sagte die Schlange. »Hast du schon einen Namen, bei dem ich dich nennen kann?« Und als der so Angesprochene weiterhin in steinerner Erstarrung und keines Wortes fähig stehenblieb, fügte sie hinzu: »Du wirst dich doch nicht vor einer Schlange fürchten, nachdem du einem Falken gegenüber so viel Mut bewiesen hast? Willst du dich vor dem schämen müssen, den man ›Der-mit-der-Schlange-spricht‹ nennt?«
    Da faßte sich der Mäusejunge und sagte ein bißchen stotternd: »Du bist Rinkulla.«
    »Ja, die bin ich«, sagte die Schlange. »Aber du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet.«
    Der Mäusejunge schien nach dieser Auskunft schon ein wenig erleichtert zu sein, wenn ihn auch der Anblick der Schlange offenkundig noch immer ziemlich irritierte. Er verbeugte sich höflich und sagte: »Ich grüße dich, weise Rinkulla. Hast du nicht bemerkt, wie jung ich noch bin? Ich habe bisher noch keinen Namen gewonnen.«
    »Dann ist es jetzt Zeit, daß du einen erhältst«, sagte die Schlange. »Ich nenne dich ›Der-dem-Falken-weissagt‹.« So erhielt der Mäusejunge hoch oben in der Felswand, eingekeilt zwischen einem tobenden Falken und einer riesigen Ringelnatter, seinen Namen.
    »Du erweist mir mehr Ehre, als ich verdiene, weise Rinkulla«, sagte er. »Ich bin vor Furcht vor diesem Falken fast vergangen und hätte wohl nicht den Mut gefunden, ihm zu widerstehen, wenn nicht dieser Stein mein Herz gestärkt hätte.«
    »Bescheiden bist du also auch noch, du Musterexemplar eines Mäuserichs«, sagte die Schlange. »Du hast deinen Namen wahrhaft verdient, denn du hast deine Furcht überwunden. Das ist weitaus mehr wert, als keine Furcht zu haben.«
    Da verneigte sich der Mäuserich abermals und sagte: »Ich danke dir für diesen Namen, Rinkulla, und werde versuchen, mich seiner würdig zu erweisen.«
    »Schon gut, schon gut!« sagte die Schlange und ließ ungeduldig ihren Kopf hin und her pendeln. »Genug der Feierlichkeit! Jetzt wollen wir uns erst einmal aus dem Umkreis dieses verrückten Vogels entfernen. Er macht für meinen Geschmack zu viel Lärm.«
    »Wie denn?« sagte ›Der-dem-Falken-weissagt‹. »Ich habe keine Lust, mich in die Reichweite seiner Fänge zu begeben.«
    »Das brauchst du auch nicht«, sagte die Schlange. »Du bist doch gewohnt, durch dunkle Gänge zu schlüpfen. Es führen hier allerlei Wege durch den Fels, die man von außen nicht sehen kann. Gib mir den Stein! Du wirst deine Pfötchen zum Klettern brauchen.« Sie öffnete ihr Maul und faßte den Stein behutsam mit ihren spitzen Zahnreihen. »Komm jetzt!« sagte

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