Stein und Flöte
Weile, nachdem der Flöter sein Spiel schon beendet hatte. Der Bärtige hatte die ganze Zeit über seine Augen nicht von dem Flöter gelassen. Er räusperte sich, als müsse er erst seine Stimme wiederfinden, und sagte zu ihm: »So hat schon seit langer Zeit niemand mehr zu mir gesprochen wie deine Flöte.«
»Auch deine Frau nicht?« fragte der Sanfte Flöter.
Der Gefesselte blickte ihn erschrocken an und sagte: »Was weißt du von meiner Frau?« Dann faßte er sich und fuhr fort: »Sie konnte das schon. Nur gab es bei dem Leben, das wir in letzter Zeit geführt haben, nicht viel Gelegenheit dazu. Hast du sie getroffen?«
»Ja«, sagte der Sanfte Flöter. »Du brauchst dir um sie keine Sorgen zu machen. Ich bin ihr am See begegnet, wo sie eben ihr Kind wusch. Sie ist dann mit mir ins Fischerdorf gegangen, nachdem sie mir erzählt hat, was sich zugetragen hat. Als ich mich ins Moor aufmachte, löffelte sie gerade eine warme Suppe, und das Kind war schon satt und schlief.«
Rulosch hatte dem Gespräch zugehört und betrachtete jetzt den Bärtigen, als sehe er ihn zum ersten Mal. »Ich wußte gar nicht, daß du Weib und Kind hast«, sagte er. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Du hast mich nicht danach gefragt, Rulosch«, sagte der Bärtige, »und ich hätte es wahrscheinlich auch nicht verraten, so wie mir in deiner Stube zumute war.«
»Das kann schon sein«, sagte Rulosch. »Aber ich hätte dich dennoch fragen müssen. Mir scheint jetzt überhaupt, daß ich diese Verhandlung allzu rasch geführt habe. Ich weiß noch nicht einmal, wie du heißt.«
»Wenn das so ist«, sagte der Sanfte Flöter zu Rulosch, »dann wirst du diese Verhandlung noch einmal führen müssen. Es ist doch wohl auch bei euch Brauch, den Angeklagten nach seinem Namen zu fragen?«
»Du hast recht«, sagte Rulosch beschämt. »Wir waren alle ziemlich wütend über das, was geschehen war, aber ein Richter soll sich nicht vom Zorn leiten lassen.«
»Ich habe auch Grund genug dazu gegeben«, sagte der Bärtige. »Und damit du nicht mehr zu fragen brauchst, sage ich dir jetzt gleich, daß ich Barnulf heiße.«
»Ein passender Name«, sagte Rulosch. »Du siehst wirklich aus wie ein Bär und kannst auch so böse sein wie einer, den man aus dem Winterschlaf aufstört.«
Als er das sagte, schauten auch die anderen Männer Barnulf an und grienten.
Der Sanfte Flöter schien zufrieden mit dieser Entwicklung. »Wie wäre es«, fragte er, »wenn ihr jetzt Barnulf die Fesseln abnehmt? Schließlich ist er nicht rechtens verurteilt, und außerdem scheint er mir ein friedlicher Mensch zu sein.«
Die Fischer schauten Rulosch fragend an, und als dieser nickte, machte sich einer von ihnen daran, dem Gefangenen die Fesseln aufzuknüpfen. Der Strick war ihm wohl zu kostbar, als daß er ihn kurzerhand durchgeschnitten hätte. Als er frei war, rieb sich Barnulf seine Handgelenke, um das Blut in Bewegung zu bringen. Dann ging er hinüber zu Bargasch und sagte: »Kannst du mir verzeihen, was ich dir angetan habe? Wenn ich dich jetzt so anschaue, tut es mir doppelt leid, denn du siehst aus wie ein netter Bursche.«
»Du gefällst mir jetzt auch schon besser als heute früh, Barnulf«, sagte Bargasch lächelnd. »Wegen dieses Kratzers brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Bei einer Rauferei kann so etwas schon vorkommen. Und meine Aale sind schließlich auch noch da.«
»Bis auf einen«, sagte Barnulf.
»Den habe ich immerhin zu kosten bekommen«, sagte Bargasch, und jetzt lachten alle; denn sie hatten inzwischen erfahren, daß die ganze Bescherung sich über seinen Hintern ergossen hatte.
Rulosch wurde als erster wieder ernst. »Ihr habt wohl alle vergessen, wozu wir hier ins Moor gegangen sind?« sagte er.
»Nein«, sagte Barnulf. »Ich habe es nicht vergessen. Und ich gebe mich in deine Hand, denn ich habe Vertrauen zu dir gefunden.«
Rulosch blickte ihn ein wenig unsicher an, als könne er das alles noch nicht recht begreifen. Dann sagte er: »Also gehen wir wieder nach Hause und beginnen noch einmal von vorn mit dieser Verhandlung. Recht muß schließlich Recht bleiben.« Dann wandte er sich an den Sanften Flöter und fuhr fort: »Dich hätte ich gern bei der Gerichtsverhandlung neben mir. Du machst es einem leicht, die Dinge von der richtigen Seite zu betrachten.«
So machten sie sich auf den Rückweg, und keiner der Fischer gab sich dabei auf irgendeine Weise den Anschein, als sei hier ein Gefangener zu bewachen. Es war ein durchaus
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