Stein und Flöte
Auge und fragte: »Wer bist du überhaupt?«
»Man nennt mich den Sanften Flöter«, sagte der Mann und setzte gleich hinzu: »Du brauchst dich mir nicht vorzustellen. Ich weiß, du bist Rulosch, der unten im Dorf Recht zu sprechen pflegt. Ich finde es übrigens sehr anerkennenswert, daß du dich selber dazu zwingst, zum Zeugen der Vollstreckung deiner Rechtssprüche zu werden. Da überlegt man sich dann später dreimal, was man über solch einen armseligen Burschen verhängt.«
Rulosch blickte ihn verblüfft an. »Woher weißt du, daß ich mich dazu zwingen muß?« und fügte dann fast aufsässig hinzu: »Vielleicht sehe ich das gerne.«
»Mach dich nicht schlechter, als du bist«, sagte der Sanfte Flöter. »Deine Augen strafen dich Lügen.«
»Du hast recht«, sagte Rulosch und senkte den Blick. Dann hob er mit einem Ruck wieder den Kopf und sagte: »Aber dieser Mann ist eine solche Gefahr für alle, daß er sterben muß. Er hat …«
Der Flöter unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung und sagte: »Du brauchst mir nicht zu erzählen, was er getan hat. Das weiß ich schon. Ich will dich auch nicht daran hindern, so mit ihm zu verfahren, wie du beschlossen hast. Doch vorher solltest du mir noch eine Bitte erfüllen.«
»Das kommt darauf an«, sagte Rulosch vorsichtig. »Sag mir, was du willst.«
»Nichts besonderes«, sagte der Sanfte Flöter. »Ich möchte diesem Mann noch ein bißchen auf meiner Flöte vorspielen.«
Der Bärtige war diesem Gespräch ziemlich verständnislos gefolgt. »Was soll dieser Unsinn?« fragte er grob. »Macht endlich Schluß und schmeißt mich in das Loch! Flöten! Als ob ich jetzt noch auf Tanzmusik aus wäre!«
»Bist du das nicht?« fragte der Sanfte Flöter. »Das wundert mich. Hast du nicht früher gerne getanzt? Und war das Leben nicht schön zu dieser Zeit? Willst du nicht noch einmal spüren, daß du lebst und Freude empfinden kannst?«
»Freude?« sagte der Bärtige. »Ich bezweifle, daß du mich hier neben diesem Moortümpel mit deiner Flöte dazu bringen kannst«, aber das klang schon fast so, als hätte er sagen wollen: Wetten, daß du das nicht schaffst? Der Flöter nahm es jedenfalls so auf und sagte zu Rulosch: »Hast du irgend etwas dagegen?«
Rulosch zuckte mit den Achseln und sagte: »Meinetwegen. Aber mach’s kurz!«
Da zog der zierliche Mann eine silberne Flöte aus der Tasche, setzte sie an die Lippen und begann auf ihr zu spielen. Angesichts der öden Landschaft und des Gefesselten neben dem düsteren Moorloch wirkten schon die ersten Töne wie ein Schock: Es war eine fröhliche Melodie, mit der dieser Flöter begann, ein lustiger, schwingender Tanz, bei dem man sein Mädchen im Kreis drehte, daß die Röcke fliegen. Die Männer blickten zunächst befremdet auf den Flöter, der hier eine so unziemliche Musik machte, aber er ließ sich nicht stören, sondern mischte allenfalls noch lustigere Triller und Läufe in sein Spiel, als sei das hier an diesem Ort genau das richtige. Nicht etwa, daß er die Männer zum Tanzen gebracht hätte. Das hatte er wohl auch gar nicht im Sinn, aber ihre Mienen lockerten sich doch, aus ihren Augen schwanden Strenge und Verschlossenheit, und sie standen nicht mehr steif jeder für sich da, sondern wie eine Gruppe von Männern, die vor einem Wirtshaus stehen und eben überlegen, ob sie noch eins trinken oder nach Hause gehen sollen. Selbst der Gefesselte schien zu ihnen zu gehören; er lächelte sogar, während er dem Spieler zuschaute und dessen Fingerfertigkeit bewunderte.
Jetzt ließ der Flöter diesen munteren Tanz allmählich ausklingen und begann, neue, sanftere Melodien in sein Spiel einzuflechten, die er auf kunstvolle Weise miteinander verknüpfte, daß man den Eindruck gewann, zwei Menschen redeten in Frage und Antwort miteinander, wobei die zunächst kontrastierenden Melodien voneinander einzelne Tonfolgen aufnahmen und in ihre eigenen Muster einbauten, bis die eine das Gegenbild der anderen zu sein schien, obwohl sie durchaus anders und eigenständig blieben. So errichtete der Flöter um die hier versammelten Männer ein Gebäude aus Tönen, das sie umschloß wie eine warme Stube, in der Menschen miteinander sprechen mit dem einzigen Ziel, den anderen zu verstehen, und diese Melodien waren so wunderschön, daß den Männern einem nach dem andern die Tränen in die Augen traten, ohne daß sie sich dessen schämten, und der Bärtige war nicht der letzte, dem dies widerfuhr.
So standen sie noch eine ganze
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