Stein und Flöte
friedliches Bild, wie die Männer zu zweien oder dreien ohne sonderliche Eile auf dem schmalen Pfad durch das Moor auf den fernen See zugingen, dessen glatte Fläche jetzt blank unter der hochstehenden Sonne glänzte.
Wie hat dieser Flöter das nur gemacht? fragte er sich, während er den kleinen Zug einträchtig auf das Dorf zuwandern sah. Hat er sie mit seiner Flöte etwa so verzaubert, daß sie nicht mehr wußten, was sie zu tun sich vorgenommen hatten? Hat er ihnen auf diese Weise seinen Willen aufgezwungen?
»Wo denkst du hin?« sagte da der Sanfte Flöter zu ihm und schaute ihm dabei geradewegs in die Augen, als wolle er jeden Zweifel daran ausschließen, daß er genau wisse, wer diese Frage gestellt hatte. »Bin ich denn einer von diesen Zauberern, die andere Dinge tun lassen, die sie eigentlich gar nicht wollen? Die Flöte ist dabei gar nicht so wichtig. Sie hilft mir nur ein bißchen, das zu sagen, was sich mit Worten nur schwer ausdrücken läßt. Außerdem mache ich gern Musik. Du mußt das so sehen: Der Zorn war über sie alle gekommen wie eine Krankheit, die ihre Sinne verwirrt, und dieser Zorn war es, der sie Dinge tun ließ, die sie bei klarem Verstand gar nicht getan hätten, dieser Barnulf genau so wenig wie diese Fischer und ihr Richter Rulosch. Ich habe nichts weiter getan, als mit meiner Musik ihr Gemüt von diesem Zorn zu befreien und sie spüren zu lassen, daß ich ihnen das Gute zutraue. Hast du das nicht gehört? Du solltest das Zuhören doch jetzt inzwischen gelernt haben!«
»Was hast du eben gesagt?« fragte Rulosch. »Entschuldige, ich war in Gedanken und habe dir nicht zugehört.«
»Das macht nichts«, sagte der Sanfte Flöter lächelnd. »Du warst auch nicht gemeint. Worüber hast du nachgedacht?«
»Das ist schwer zu sagen und klingt aus dem Munde eines Richters wohl auch ziemlich sonderbar: Ich habe mich gefragt, wie ich jetzt über Barnulf zu Gericht sitzen soll; denn er erscheint mir plötzlich wie ein Freund, den ich gern habe.«
»Warum soll das sonderbar sein?« fragte der Sanfte Flöter. »Was kann ein Richter schon taugen, der die Menschen nicht liebt, die vor seinem Tisch stehen? Wäre seine Gerechtigkeit nicht wie eine taube Nuß? Du wirst sehen: Erst jetzt wirst du imstande sein, den richtigen Spruch zu finden.«
»Nachdem ich sein Gesicht gesehen habe, als er deinem Spiel zuhörte, erscheint er mir wie ein anderer Mensch«, sagte Rulosch. »Das macht die Sache so schwierig.«
»Wie ein anderer Mensch?« wiederholte der Sanfte Flöter. »Ist es nicht vielmehr so, daß du erst jetzt den Menschen erkannt hast, der er ist? Was hieltest du denn von ihm, als du ihn verurteilt hast?«
»Ich habe gesagt, er sei wie ein wildes Tier«, sagte Rulosch, und erst dann merkte er, daß er damit dem Flöter recht gab. »Ich habe über ihn geurteilt, als sei er ein Wolf aus dem Wald, den man ohne Bedenken erschlägt«, sagte er. »Jetzt begreife ich, daß ich ein schlechter Richter bin. Ich möchte das Gericht über ihn in deine Hände legen.«
»Das wirst du nicht tun«, sagte der Sanfte Flöter mit Bestimmtheit. »Du bist der Richter und kannst dein Amt nicht einfach ablegen wie einen Rock, der dir nicht mehr gefällt. Wer sollte später noch Vertrauen zu dir haben, wenn du selbst kein Vertrauen mehr zu dir hast? Befrage Barnulf und die Zeugen zum zweiten Mal und finde deinen Spruch!«
Währenddessen hatten sie sich dem Dorf wieder so weit genähert, daß die Kinder, die draußen vor den Häusern auf der nassen Wiese eben einen schreienden Jungen in eine sumpfige Pfütze tunkten, ihr makabres Spiel unterbrachen und zu ihnen herüberblickten. Dann erkannte eines von ihnen, daß Barnulf mit den Fischern zurückkehrte. Es rief die Entdeckung den anderen zu, und dann rannten alle ins Dorf und schrien die Neuigkeit aus. So standen diesmal wieder Frauen vor der Tür, als die Männer das Dorf erreichten. Auch Barnulfs Frau war unter ihnen. Sobald sie ihren Mann erkannte, lief sie auf ihn zu und warf ihm die Arme um den Hals.
»Was ist mit dem Jungen?« fragte Barnulf.
»Der ist satt und schläft«, sagte die Frau. »Daß du nur wieder da bist! So hat der alte Mann sein Wort gehalten, das er mir gegeben hat.«
»Was hat er dir denn versprochen?« fragte Rulosch und blickte den Sanften Flöter mißtrauisch an.
Die Frau machte sich von ihrem Mann frei und schaute den Richter verlegen an.
»Nun?« sagte Rulosch streng. »Hat er dir versprochen, deinen Mann unversehrt
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