Stein und Flöte
schrie: »Keinen Fisch sollt ihr mir mehr fangen, wie ihr meine Aglaia gefangen habt. Gebt sie mir zurück!«
»Das ist nicht möglich«, rief der Älteste. »Aglaia ist tot.«
»Tot?« heulte der Grüne. »Was heißt tot? Ich kenne das Wort nicht.«
Die Fischer blickten einander bestürzt an. Dann rief der Älteste. »Wer tot ist, kann nicht mehr kommen. Wir können sie dir nicht mehr zurückgeben, selbst wenn wir wollten.«
»Habt ihr sie gefressen wie meine Fische? Nun sollt ihr nie mehr einen meiner Fische fangen!« brüllte der Grüne durch den Sturm und begann wieder in den Wellen zu versinken.
»Warte!« schrie der Älteste. »Du nimmst uns allen das Leben. Was sollen wir tun, um deinen Zorn zu besänftigen?«
»Aglaia!« heulte der Grüne. »Gebt mir Aglaia wieder!«
»Das geht nicht«, antwortete der Älteste. »Sollen wir dir Jelosch ausliefern, der sie dir genommen hat?« Jelosch, der bei den Männern stand, wurde bleich, als er das hörte, aber er unternahm keinen Versuch zu fliehen, denn er hatte begriffen, daß es hier um das Leben des ganzen Dorfes ging.
»Was soll ich mit diesem Jelosch!« schrie der Grüne. »Soll er mich jeden Tag daran erinnern, daß er mir Aglaia genommen hat? Wird er mich aus meiner Trauer erlösen? Schickt mir heute und jedes Jahr in dieser Nacht ein Mädchen, das mein Herz erfreut. Wenn es bei mir ist, ehe die Sonne aus dem See taucht, sollt ihr genug Fische in euren Netzen fangen.« Während er diese Worte sprach, war der Grüne schon wieder bis über die Schultern in den Wellen untergetaucht und verschwand dann in einem schäumenden Strudel.
Die Fischer standen am Ufer und wagten vor Entsetzen kaum, einander anzusehen. Dann sagte der Älteste: »Weckt alle Leute und ruft sie auf dem Dorfplatz zusammen. Wir müssen über diese Sache reden, ehe die Dämmerung über den See steigt.«
Als die Leute hörten, was der Grüne verlangt hatte, packte sie das Grauen. »Sollen wir diesem Unhold unsere Töchter überlassen?« schrie eine Frau. Doch der Älteste antwortete ruhig: »Wollt ihr alle verhungern?« Da sahen die Leute ein, daß es keinen anderen Ausweg gab. Alle schwiegen und blickten vor sich hin auf den Boden. In die Stille hinein fragte einer: »Und wer soll seine Tochter opfern?«
»Das Los wird bestimmen, welches Mädchen gehen muß«, sagte der Älteste. Er legte eine Handvoll Holzstäbchen vor sich hin, nahm eines davon für jedes Mädchen, das im vergangenen Jahr 17 Jahre alt geworden war, aus dem Haufen und ritzte das Hauszeichen ihrer Familie hinein. Dann warf er eine Decke über die bezeichneten Stäbchen und forderte den Fischer, der ihm am nächsten stand, auf, eines davon herauszuziehen. Doch dieser weigerte sich, und auch kein anderer wollte sich bereit finden, das Los des Mädchens zu ziehen, das dem Grünen ausgeliefert werden sollte. »Wenn es keiner von euch tun will«, sagte der Älteste schließlich, »dann sollst du das Los ziehen, Jelosch. Du darfst dich nicht weigern, denn du hast uns in diese Lage gebracht.«
Da ging Jelosch zu ihm hin, zog das Los unter der Decke hervor und gab es dem Ältesten. Dieser blickte auf das Zeichen, das er in das Stäbchen geritzt hatte, sagte laut den Namen des Mädchens und fügte hinzu: »Wir haben nicht mehr viel Zeit, denn im Osten wird es schon hell.«
Während die Frauen die schreiende Mutter festhielten, gingen die Männer mit dem Vater des Mädchens zu dem Haus, in dem es wohnte. Nach kurzer Zeit kamen sie zurück, und zwei von ihnen führten das Mädchen zwischen sich. Es trug ein schwarzes Kleid, und seine schneeweißen Wangen waren naß von Tränen. Gefolgt von den anderen Leuten, brachten die Männer das Mädchen zum See und führten es hinein, bis alle drei bis zur Brust im Wasser standen. Da begann es vor ihnen zu strudeln und zu schäumen, das Mädchen schrie gellend auf und wurde von den Männern vorangestoßen. Da versank es im wirbelnden Wasser, als habe man den Boden unter seinen Füßen weggezogen.
In diesem Jahr waren die Fischer mit ihrem Fang zufrieden, und die Leute hatten noch im Winter genug Räucherfisch und brauchten nicht zu hungern. Deshalb hielten sie sich auch in den folgenden Jahren an die Abmachung mit dem Grünen. In jedem Frühling an dem Tag, an dem Jelosch Aglaia ins Dorf gebracht hatte, mußte er das Los ziehen, und er tat es ohne Widerspruch. Wenn er sich früher aus eigenem Willen abseits gehalten hatte, so wurde er jetzt von den Leuten gemieden wie ein Verfemter. Sogar
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