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Stein und Flöte

Stein und Flöte

Titel: Stein und Flöte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Bemmann
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die Amme verließ sein Haus, sobald das Kind sie entbehren konnte, und von da an sorgte Jelosch selbst für seine Tochter. Er hing an ihr mit aller Liebe, die ihm noch geblieben war, aber er wurde früh grau, bekam ein mürrisches, verschlossenes Gesicht, ging seiner eigenen Wege und warf sein Netz an entlegenen Stellen aus, wo die anderen nicht fischten.
    Unter diesen Umständen erschien es den Leuten merkwürdig, daß Agla trotz der Art ihres Vaters zu einem fröhlichen Mädchen heranwuchs, das gern lachte und sang. Es gab Gründe genug, daß die Leute im Dorf auch mit ihr nichts hätten zu tun haben wollen, aber wenn sie einen mit ihren lustigen braunen Augen ansah, konnte man sich ihrer Fröhlichkeit nicht entziehen. Jeder mochte sie gern und rief ihr ein paar freundliche Worte zu, wenn sie durchs Dorf ging. Nur vermieden es die Leute, ihren Vater zu erwähnen, wenn sie mit ihr sprachen. Als die Burschen im Dorf anfingen, ihr nach zu blicken, begann man sie Schön Agla zu nennen; denn sie hatte nicht nur ihre Augen von der Mutter geerbt, sondern glich ihr auch sonst wie eine Zwillingsschwester. Es mag für Jelosch ein Trost gewesen sein, vielleicht aber auch eine Qual, daß seine Erinnerung an Aglaia auf diese Weise nie verblassen konnte.
    Auch im Frühjahr, in dem Schön Agla 17 Jahre alt geworden war, mußte Jelosch wieder in jener Nacht das Los ziehen, und er wußte, daß auch sein Hauszeichen auf eines der Holzstäbchen eingeritzt war. Diesmal zitterte seine Hand, als er unter die Decke griff; er versuchte wohl auch, die eingekerbten Zeichen zu ertasten, aber seine Finger waren wie taub. Er zog ein Hölzchen heraus und gab es dem Ältesten. Als dieser das Zeichen erkannte, konnten alle, die schweigend im Kreis um ihn standen, deutlich sehen, wie er schluckte, als versage ihm die Stimme. Dann sagte er laut und deutlich: »Agla.«
    Jelosch drehte sich um und ging ohne ein Wort davon, als habe er das schon längst gewußt. Langsam folgten ihm die Leute. Sie ließen sich Zeit und mußten diesmal auch keine jammernde Mutter festhalten. Vor Jeloschs Haus brauchten sie nicht lange zu warten, bis dieser wieder aus der Tür trat. Doch ihm folgte kein weinendes Mädchen in schwarzen Trauergewändern. Agla hatte ein schneeweißes Festkleid angezogen und lächelte den Leuten zu, als ginge sie zu ihrer Hochzeit. »Ihr braucht mich nicht zu führen, ich kenne den Weg«, sagte sie zu den beiden Männern, die auf sie zutraten, um sie bei den Armen zu fassen und zum See zu bringen. Sie küßte ihren Vater auf beide Wangen und ging dann allein den Leuten voran zum Ufer. Und als sie ohne zu zögern ins Wasser hineinschritt, fing sie an zu singen, in einer dreitönigen Melodie, wie sie Kinder bei ihren Spielen benutzen:
    Grüner,
    Wassermann,
    der uns Fische bringen kann,
    lasse doch dein Trauern
    nicht so lange dauern,
    Wassermann vom grünen Grund,
    küß Schön Agla auf den Mund.
    Sie ging in den See hinein, bis ihr das Wasser über die Hüften reichte. Dann blieb sie stehen, denn vor ihr begann das Wasser aufzuwallen, und aus dem schäumenden Schwall tauchte der runde Kopf des Grünen. Triefend hob sich sein mächtiger Rumpf empor, und rings um ihn glitzerte das sprühende und schwappende Wasser im Mondlicht wie tausend Edelsteine. Der Grüne blickte Agla mit seinen runden Augen an und sagte: »Bist du endlich wiedergekommen, Aglaia?«
    Als sie das hörte, lachte Schön Agla und sagte: »Ach, Grüner, wartest du noch immer auf Aglaia? Sieh mich doch an! Aglaias Tochter ist groß geworden, und sie ist genauso fröhlich, wie ihre Mutter gewesen ist.«
    »Ja«, sagte der Grüne, »du bist fröhlich. Aber alle anderen, die sie mir geschickt haben, waren traurig. Keine von ihnen hat mein Herz erfreut.«
    »Komm zu mir, Grüner«, sagte Agla, »damit ich dich küsse.«
    Da schob sich der Grüne durch das Wasser zu ihr heran, und als er bei ihr war, legte sie die Arme auf seine Schultern und küßte ihn auf seinen breiten Mund. »Bist du jetzt noch traurig, Grüner?« fragte Schön Agla.
    »Nein«, sagte der Grüne. »Meine Trauer ist fortgeflogen wie eine Ente über den See. Willst du mit mir kommen und bei mir bleiben?«
    »Das kann ich nicht«, sagte Schön Agla, »denn ich habe einen Menschen zum Vater. Ich muß unter Menschen leben, und nur bei ihnen kann ich fröhlich sein. Aber ich werde für dich singen, wann immer du willst.«
    »Dann werde ich nicht mehr traurig sein«, sagte der Grüne. »Und sage deinen Leuten, daß ich

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