Steinbock-Spiele
kam.
»Es gab einmal nur sehr wenige Menschen auf der Welt«, begann er, »und sie lebten in einem grünen, fruchtbaren Tal, wohin nie der Winter kam und das ganze Jahr hindurch die Gärten blühten. Sie verbrachten ihre Tage mit Lachen und Schwimmen und In-der-Sonne-liegen, und abends feierten und sangen sie und liebten sich, und das ging so ohne Unterlaß, jahrein, jahraus, und niemand wurde jemals krank oder litt an Hunger, und niemand starb je. Trotz der Friedlichkeit ihres Daseins war ein Mann im Dorf unglücklich. Er hieß Faust und war ein ruheloser, intelligenter Mann mit scharfen, brennenden Augen und einem hageren, ernsten Gesicht. Faust fühlte, daß das Leben aus mehr bestehen mußte, als aus Schwimmen und Lieben und reife Früchte von den Bäumen pflücken. ›Das Leben ist noch mehr‹, sagte Faust beharrlich, ›etwas, das wir nicht kennen, etwas, das sich unserem Zugriff entzieht, etwas, dessen Fehlen uns daran hindert, wahrhaft glücklich zu sein. Wir sind unvollständig.‹ Die anderen hörten ihm zu und waren zuerst verwirrt, denn sie hatten nicht gewußt, daß sie unglücklich oder unvollständig waren; sie hatten die Leichtigkeit und Gelassenheit ihres Lebens für Glück gehalten. Aber nach einer Weile fingen sie an zu glauben, daß Faust recht haben mochte. Sie hatten nicht gewußt, wie leer ihr Leben war, bis Faust sie darauf hingewiesen hatte. Was können wir tun? fragten sie. Wie können wir erfahren, was es ist, das uns fehlt? Ein weiser, alter Mann meinte, sie könnten die Götter fragen. Sie bestimmten Faust also dazu, den Gott Prometheus aufzusuchen, der als Freund der Menschheit galt, und ihn zu befragen. Faust ging quer über Tal und Berge, Fluß und Wälder, und erreichte endlich Prometheus auf dem sturmumtobten Gipfel, wo er wohnte. Er bat: ›Sage mir, Prometheus, warum wir uns so unvollständig fühlen.‹ Der Gott erwiderte: ›Das liegt daran, daß ihr den Gebrauch des Feuers nicht kennt. Ohne Feuer kann es keine Zivilisation geben; ihr seid unzivilisiert, und eure Barbarei macht euch unglücklich. Mit dem Feuer könnt ihr euer Essen kochen und vielerlei neuen, interessanten Wohlgeschmack genießen. Mit Feuer könnt ihr Metalle bearbeiten und wirksame Waffen und anderes Werkzeug herstellen.‹ Faust bedachte das und sagte: ›Aber wo können wir Feuer herbekommen? Was ist es? Wie wird es gebraucht?‹
›Ich werde euch Feuer bringen‹, antwortete Prometheus.
Dann ging Prometheus zu Zeus, dem größten der Götter, und sagte: ›Zeus, die Menschen begehren Feuer, und ich erbitte deine Erlaubnis, es ihnen zu geben.‹ Aber Zeus hörte schlecht, und Prometheus lispelte arg, und in der Sprache der Götter waren die Wörter für Feuer und für Tod sehr ähnlich, so daß Zeus Prometheus mißverstand und sagte: ›Wie seltsam von ihnen, so etwas zu begehren, aber ich bin ein gütiger Gott und verweigere meinen Geschöpfen nichts, was sie ersehnen.‹ So erschuf Zeus eine Frau namens Pandora, tat den Tod in sie hinein und gab sie Prometheus, der sie mit in das Tal nahm, wo die Menschen lebten. ›Hier ist Pandora‹, sagte Prometheus. ›Sie wird euch Feuer geben.‹
Prometheus hatte kaum seinen Abschied genommen, als Faust vortrat, Pandora umarmte und bei ihr lag. Ihr Körper war heiß wie die Flamme, und während er sie in den Armen hielt, trat der Tod aus ihr heraus und in ihn hinein, und er schauderte und wurde fiebrig und rief in Ekstase: ›Das ist Feuer! Ich habe das Feuer gemeistert!‹ Noch in dieser Stunde begann der Tod ihn zu verzehren, so daß er schwach und dünn wurde, seine Haut vertrocknete und gelb wurde, und er zitterte wie Laub im Wind. ›Geht!‹ rief er den anderen zu. ›Umarmt sie: Sie ist die Überbringerin des Feuers!‹ Und er wankte davon in die Wildnis jenseits des Tals und murmelte: ›Dank sei Prometheus für diese Gabe.‹ Er legte sich unter einen großen Baum, und dort starb er, und es war das erstemal, daß der Tod einen Menschen heimgesucht hatte. Und der Baum starb ebenfalls.
Dann umarmten die anderen Männer des Dorfes Pandora, einer nach dem anderen, und der Tod ging auch in sie, und sie gingen von ihr zu ihren eigenen Frauen und umarmten sie, so daß bald alle Männer und Frauen des Dorfes im Tod loderten, und einer nach dem anderen beendete sein Leben. Der Tod blieb im Ort, ging in alle, die lebten, und in alle, die aus ihren Lenden geboren wurden, und so kam der Tod in die Welt. Danach traf bei einem der Gewitter der Blitz den Baum, der mit
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