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Steinbock-Spiele

Steinbock-Spiele

Titel: Steinbock-Spiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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die ferne Mutterwelt mit dem Raumschiff verknüpft. Manchmal träumt er von Yvonne und Noelle, Noelle und Yvonne, und das leuchtende Band, das sich zwischen den Schwestern dehnt, erstrahlt so gleißend, daß er sich herumwirft und stöhnt und die Stirn in das Kissen drückt.
    Die Störung wird stärker. Weder Noelle noch Yvonne können erklären, was geschieht; Noelle klammert sich ohne Überzeugung an ihren Vergleich mit den Sonnenflecken. Sie treten immer noch zweimal am Tag in Verbindung, aber die Belastung der beiden Schwestern nimmt immer mehr zu, denn jeder Satz muß zwei- oder dreimal wiederholt werden, und ganze Wortblöcke gelangen überhaupt nicht ans Ziel. Noelle ist mager geworden und sieht eingefallen aus. Das Go-Spiel erfrischt sie oder lenkt sie wenigstens von diesem Versagen ihrer Fähigkeiten ab. Sie ist eine Meisterin des Spiels geworden und läßt sogar Roy einen Vorsprung von zwei Steinen; obwohl sie gelegentlich verliert, spielt sie stets außerordentlich gut und zeigt erstaunliche Originalität in Entwurf und Ablauf. Wenn sie nicht am Spieltisch sitzt, neigt sie dazu, distanziert und abwesend zu sein. Sie ist in jeder Hinsicht eine schwerer faßbare Person als vor dem Eintritt dieser Kommunikationskrise.
    Noelle träumt, daß ihre Blindheit von ihr genommen ist. Plötzlich ist sie von Licht umgeben, und sie öffnet die Augen, setzt sich auf, schaut sich staunend und ehrfürchtig um und sagt zu sich selbst: Das ist ein Tisch, das ist ein Stuhl, so sehen meine Statuetten aus, so sieht mein Seeigel aus. Sie ist verblüfft von der Schönheit aller Dinge in ihrem Raum. Sie steht auf, tritt vor, zuerst schwankend, dann Haltung und Gleichgewicht auf wunderbare Weise findend; sie lernt auf diese neue Weise zu gehen, die Lage der Dinge nicht nach ihren Echos und den Luftströmungen zu beurteilen, sondern, indem sie ihre Augen gebraucht. Informationen überfluten sie. Sie geht durch das Schiff und entdeckt die Gesichter ihrer Schiffsgenossen. Du bist Roy, du bist Sylvia, du bist Heinz, du bist der Jahres-Kapitän. Sie sehen erstaunlicherweise fast genauso aus, wie sie sich sie vorgestellt hat: Roy beleibt und mit gerötetem Gesicht, Sylvia zerbrechlich, der Jahres-Kapitän hager und verbissen, Heinz so, Elliot so, jeder den Erwartungen entsprechend. Jeder wunderschön. Sie tritt ans Fenster, von dem die anderen alle reden, und schaut hinaus ins berühmte Grau. Ja, ja, es ist, wie sie sagen: ein Kosmos der Wunder, ein Zauber komplexer pulsierender Töne, Stufe um Stufe irisierender Kräuselungen, die zum Rand des grenzenlosen Universums hinauslaufen. Eine Stunde lang steht sie vor diesem dichten Ausbruch rieselnder Energieströme, überläßt sich ihm und nimmt ihn in sich auf, und dann, und dann, gerade als der letzte Augenblick der Offenbarung sie überkommt, erkennt sie, daß etwas nicht in Ordnung ist. Yvonne ist nicht bei ihr. Sie greift hinaus und erreicht Yvonne nicht. Sie hat ihre Kraft auf irgendeine Weise für die Gabe des Sehens getauscht. Yvonne? Yvonne? Alles ist still. Wo ist Yvonne? Yvonne ist nicht bei ihr. Das ist nur ein Traum, sagt sich Noelle, und ich werde bald wach sein. Aber sie kann nicht erwachen. In ihrer Angst schreit sie auf. »Es ist gut«, flüstert Yvonne. »Ich bin hier, Liebes. Ich bin hier, ich bin hier, wie immer.« Ja. Noelle spürt die Nähe. Zitternd umarmt sie ihre Schwester. Sieht sie an. Yvonne! Ich kann sehen, Yvonne! Ich kann sehen! Noelle erkennt, daß sie in ihrer ersten Verzücktheit ganz vergessen hat, sich selbst zu betrachten, obwohl sie umhergestürzt ist, um alles andere zu sehen. Spiegel haben nie zu ihrer Welt gehört. Sie sieht Yvonne an, was so ist, als betrachte sie sich selbst, und Yvonne ist schön, ihr Haar schwarz und schimmernd und seidig, ihr Gesicht blaß und glatt, ihre Züge fein gezeichnet, ihre Augen – ihre blinden Augen – lebendig und funkelnd. Noelle sagt Yvonne, wie schön sie ist, und Yvonne nickt, und sie lachen und umarmen einander und weinen vor Freude und Liebe, und Noelle erwacht, und die Welt rings um sie ist dunkel.
    »Ich muß den neuen Bericht senden«, sagt der Jahres-Kapitän müde. »Wollen Sie es noch einmal versuchen?«
    »Selbstverständlich.« Sie lächelt mild. »Sprechen Sie nicht einmal andeutungsweise vom Aufgeben, Jahres-Kapitän. Es muß einfach einen Weg geben, diese Störungen zu umgehen.«
    »Ganz gewiß«, sagt er. Er raschelt ruhelos mit seinen Papieren. »Okay, Noelle. Also. Einhundertachtzehnter Tag.

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