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Steinbock-Spiele

Steinbock-Spiele

Titel: Steinbock-Spiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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meinen Mund. Plötzlich, entsetzlich, umarmt er mich, und ich schreie. Warum schreie ich?
    »Sie haben versprochen, mir das Spiel beiz ubringen«, sagt sie ein wenig schmollend. Sie sind im Salon des Schiffes. Vier Partien sind im Gange: Elliot und Sylvia, Roy und Paco, David und Heinz, Mike und Bruce. Ihr Schmollen fasziniert ihn: so kleinmädchenhaft, so charmant, so menschlich. Sie scheint heute in viel besserer Verfassung zu sein, obwohl es wieder Schwierigkeiten bei der Übertragung gegeben hat. Yvonne hat sich beklagt, daß der Vormittagsbericht undeutlich und gestört angekommen sei. Noelle hat entschieden, daß die Nebengeräusche eine Art lokaler Erscheinung sind, so etwas wie eine Sonnenfleckeneinwirkung, und verschwinden werden, sobald sie von diesem Teil des Nicht-Raums weit genug entfernt sind. Er ist davon nicht so fest überzeugt wie sie, aber sie versteht solche Dinge wahrscheinlich besser als er.
    »Bringen Sie es mir bei, Jahres-Kapitän«, drängt sie. »Ich möchte es wirklich lernen. Vertrauen Sie auf mich.«
    »Also gut«, sagt er. Das Spiel könnte wertvoll für sie sein, ein entspannender Zeitvertreib, eine notwendige Ablenkung. »Das ist das Brett. Es hat neunzehn horizontale und neunzehn vertikale Striche. Die Steine werden auf den Schnittpunkten dieser Linien gespielt, nicht auf den Quadraten, die sie bilden.« Er nimmt ihre Hand und führt die Fingerspitzen über das Muster der Schnittlinien. Sie sind mit dicker Farbe aufgedruckt, auf dem flachen Brett deutlich spürbar. »Diese neun Punkte heißen Sterne«, sagt er. »Sie dienen als Orientierungspunkte.« Er führt ihre Fingerspitzen zu den neun Sternen. »Wir numerieren die Linien in dieser Richtung von eins bis neunzehn, und die Linien in der anderen Richtung bekommen Buchstaben, von A bis T, wobei I ausgelassen wird. So können wir Positionen auf dem Brett bestimmen. Das ist B Zehn, das ist D Achtzehn, das ist J Vier, verstehen Sie?« Er spürt Verzweiflung. Wie kann sie sich das Brett jemals merken? Aber sie wirkt unbesorgt, während sie mit der Hand über die Kanten des Brettes fährt und murmelt: »A, B, C, D…«
    Die anderen Partien sind unterbrochen. Alle im Salon beobachten sie. Er führt ihre Hand zu den zwei Fächern mit Steinen, den weißen und den schwarzen, und zeigt ihr die traditionelle Art, sie mit zwei Fingern zu ergreifen und auf das Brett zu klatschen.
    »Der stärkere Spieler nimmt die weißen Steine«, sagt er. »Schwarz zieht immer zuerst. Die Spieler wechseln sich mit den Zügen ab, jeweils einer, auf jeden unbesetzten Schnittpunkt. Sobald ein Stein gesetzt ist, wird er nie bewegt, außer, wenn er geschlagen wird, worauf man ihn sofort vom Brett entfernt.«
    »Und der Zweck des Spiels?« fragt sie.
    »Die größtmögliche Fläche mit der kleinstmöglichen Anzahl von Steinen zu besetzen. Man baut Mauern. Das Ergebnis wird errechnet, indem man die Anzahl freier Schnittpunkte zwischen seinen Mauern zusammenzählt, dazu die Anzahl von Gefangenen, die man gemacht hat.« Methodisch erklärt er ihr die Spieltechnik: das Setzen der Steine, das Erobern von Gebiet, das Schlagen gegnerischer Steine. Er illustriert, indem er sim ulierte Stellungen auf dem Brett aufbaut und die Position jedes gesetzten Steines nennt: »Schwarz hält P Zwölf, Q Zwölf, R Zwölf, S Zwölf, T Zwölf sowie P Elf, P Zehn, P Neun, Q Acht, R Acht, S Acht, T Acht. Weiß hält –« Auf irgendeine Weise sieht sie die Positionen vor sich; sie wiederholt die Stellungen und stellt Fragen, die zeigen, daß sie das Brett deutlich vor sich hat. Binnen zwanzig Minuten begreift sie die Grundmanöver. Während er ihr die Manöver beschreibt, nennt er mehrmals eine unrichtige Koordinate – das Brett ist mit Nummern und Ziffern und Buchstaben schließlich nicht beschriftet, und er verschätzt sich ab und zu – aber jedesmal verbessert sie ihn und fragt ruhig: »N Dreizehn? Meinen Sie nicht N Zwölf?«
    Schließlich sagt sie: »Ich glaube, ich verstehe jetzt alles. Möchten Sie eine Partie spielen?«
    Bedenke deine Lage sorgfältig. Du bist zwanzig Jahre alt, weiblich, blind. Du hast nie geheiratet oder auch nur eine Grundpaarung angestrebt. Dein einziger echter menschlicher Kontakt besteht mit deiner Zwillingsschwester, die wie du blind und alleinstehend ist. Ihr Denken steht dir völlig offen, deines ihr. Du und sie, ihr seid zwei Hälften einer Seele, auf unerklärliche Weise in getrennte Körper gebettet. Nun verlangt man von dir, an einer Reise zu den

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