Steinbrück - Die Biografie
organisierten Arbeitnehmervertretungen entstammen.
Etwas anderes kommt hinzu. Die SPD ist über ihren Gewerkschaftsflügel bis heute zwar stark in den traditionellen Industriezweigen vertreten, doch im Bereich moderner Dienstleistungen und insbesondere im Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologien kaum anzutreffen. »Wenn die SPD … wirklich strategisch denken will, muss sie zuerst die Klassenstruktur des digitalen Kapitalismus intelligent analysieren«, forderte Peter Glotz deshalb bereits 2003. Mit dem althergebrachten Denkmuster »wir hier unten, ihr da oben« habe die Sozialdemokratie in diesen modernen Wirtschaftszweigen keine Chance mehr, warnte er die Partei. Ansonsten könne es kaum gelingen, »jemals eine Mehrheit unter den disponierenden Eliten zu gewinnen, die heute aus Wissensarbeitern bestehen«. Wenn die SPD dort aber »nicht wenigstens eine spürbare Minderheit« überzeuge, werde sie unfähig sein, die Gesellschaft zu gestalten, so Glotz. Die SPD dürfe »den produktivistischen Kern der Gesellschaft nicht vergessen, missachten oder rechts liegen lassen. Sie braucht die Leute, die Projekte machen, Risiken eingehen und sich schinden.«
Das bedeutet verkürzt gesagt, dass die SPD sich nicht nur um den gewerkschaftlich organisierten Stahlkocher in einem Großbetrieb der Montanindustrie kümmern soll, sondern zugleich attraktiv werden muss für die modernen »Wissensarbeiter«, also für den Softwareprogrammierer oder den IT-Berater, der als Selbstständiger mit wechselnden Teams arbeitet oder als freier Mitarbeiter nur vorübergehend für bestimmte Projekte eingesetzt wird.
Der klassische Arbeiter im Dauerbeschäftigungsverhältnis alter Prägung stelle einen Teil der »schrumpfenden Traditionsbataillone« dar, auf die die SPD sich nicht mehr alleine verlassen dürfe, warnt auch Steinbrück. Allein mit dieser Klientel und den dazu passenden politischen Repräsentanten sei die Sozialdemokratie nicht mehr in der Lage, mehrheitsfähig zu werden. »Die SPD ist sicherlich gut beraten, sich nicht nur für Rentner und Transfergeldempfänger einzusetzen, sondern auf die Interessen derjenigen zu achten, die jeden Tag arbeiten gehen und erst das erwirtschaften, was verteilt werden kann«, betonte Steinbrück in einem Interview ( Handelsblatt , 7.10.2010). Für ihn gibt es deshalb nur eine Schlussfolgerung: »Die SPD wird lernen müssen, die Welt und die Gesellschaft neu zu interpretieren, um dann zu definieren, was Fortschritt unter den Bedingungen des ökonomisch-technischen Wandels, der Demografie, der Pluralisierung und Individualisierung bedeutet.«
So etwas hört nicht jeder innerhalb der Partei gerne. Die Mehrzahl der Funktionäre hat sich daran gewöhnt, linke Politik auf die Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital zu beschränken. Bei dieser thematischen Fixierung wird der Kampf um Gerechtigkeit reduziert auf eine möglichst breite Umverteilung von oben nach unten. Steinbrück reicht aber das Soziale in der Politik der SPD nicht mehr aus, auch wenn die Partei auf diesem Feld »die größten Wohlfühlerlebnisse« hat, wie er sarkastisch feststellt. Die SPD bemerke nicht, dass »ihr wirtschaftspolitisches Bein zu kurz ist und sie deshalb im Kreis läuft«, moniert er und fordert deshalb vehement einen Kurswechsel, was wiederum vom linken Flügel der Sozialdemokratie misstrauisch beäugt wird. Nach Einschätzung von Steinbrück braucht die SPD dringend mehr wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenz. Dabei sieht er sich natürlich als Bannerträger vorneweg marschieren, bislang allerdings ohne ausreichende Gefolgschaft. »Zwei oder drei Figuren im Schaufenster und der eine oder andere vernunftbegabte Vorstoß, der möglicherweise im sozial- oder umweltpolitischen Überschwang wieder konterkariert wird, sind nicht genug«, weiß Steinbrück. Das gilt, so möchte man hinzufügen, natürlich in ganz besonderer Weise für eine Spitzenkandidatur im Wahlkampf. Ohne ehrlichen Beifall aus den eigenen Reihen würde jedem Frontmann die Glaubwürdigkeit fehlen.
Konsequent hat Steinbrück die SPD von Anfang an als »Wertschöpfungspartei« und eben nicht als klassische »Umverteilungspartei« gesehen. Daraus hat er in allen seinen politischen Ämtern den Auftrag abgeleitet, nach Möglichkeit optimale Bedingungen für eine funktionierende Wirtschaft und eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zu schaffen. Zwangsläufig entwickelten sich daraus viele Konflikte mit den SPD-Linken und den Grünen, deren
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