Steinbrück - Die Biografie
das wünschen«, erklärte der damalige Bundesfinanzminister und stellvertretende SPD-Chef. »Das hat viel mit der politischen Körpersprache der SPD zu tun.« Zwischenfrage: »Sie meinen das Bekenntnis zur eigenen Regierungspolitik?« Antwort Steinbrück: »Den Leuten kommen wir im Moment wie eine Heulsuse vor: Wir ziehen einen Flunsch wegen der Popularität der Kanzlerin. Wir gucken verkniffen auf das Phänomen der Linkspartei. Wir klagen darüber, dass die Globalisierung uns erwischt, obwohl Deutschland davon profitiert. Wir heulen, weil wir Reformpolitik machen müssen. Wir heulen ein bisschen über Hartz IV und über die Agenda 2010. Da sagen die Menschen: Wenn die sich nicht vertrauen, warum soll ich ihnen vertrauen?«
Geblieben ist von dieser hellsichtigen Manöverkritik bloß das bis heute immer wieder verwendete Zitat, Steinbrück beschimpfe seine Partei oder die Agenda-Kritiker der SPD als Heulsusen. Wirklich falsch ist das nicht, aber eben reichlich überspitzt. Dass sich manche darüber ärgern, kann man verstehen. Allerdings sagt diese Empfindlichkeit viel über das Selbstbewusstsein derjenigen aus, die sich von Steinbrücks Analyse der SPD-Außenwirkung offenkundig zielgenau angesprochen fühlten.
Dabei waren diese Ausführungen ganz anders gedacht, nämlich als Warnung an die Genossen, da draußen bei den Bürgern nicht immer mit Sündergesicht und Büßerhemd herumzulaufen. Eigentlich steckte sogar eine hohe Wertschätzung für die SPD in der Bemerkung, die Partei solle doch verdammt noch mal stolz sein auf ihre Leistungen und auf ihren Mut zu Reformen. Und sie solle verdammt noch mal festhalten an ihrer Agenda 2010, die inzwischen als Initialzündung für den deutschen Wirtschaftsaufschwung gilt. Nur wenn sich die SPD zu sich selbst bekenne, werde sie bei Wahlen wieder Zuspruch gewinnen – so die eigentliche Botschaft. Steinbrück wollte im besten Sinne aufrütteln und hat die geliebte Heulsuse dabei so stark geschüttelt, dass sie ein Schleudertrauma davontrug.
Noch immer fühlt er sich deswegen missverstanden, wie so oft. Sicher nicht zu Unrecht geht er davon aus, dass manche seiner Gegner ihn aus gezielter Berechnung heraus falsch interpretieren. Einer davon ist Ralf Stegner, Vorsitzender der schleswig-holsteinischen SPD, Exponent des linken Flügels und Steinbrück seit gemeinsamen Kieler Regierungstagen in herzlicher Abneigung verbunden. Stegner war es auch, der nach dem »Heulsusen-Interview« im Parteivorstand in Berlin laut darüber klagte, dass Steinbrück die SPD herabwürdige.
Steinbrück ärgert sich über so etwas, hat aber zugleich gelernt, mit solchen Reaktionen umzugehen. Jeder, der austeilt, muss auch einstecken können, das weiß er. Ein »Glaskinn«, wie er gerne sagt, hat der angriffslustige Hanseat sicher nicht. Richtig ungehalten kann er jedoch werden, wenn man ihm vorhält, er sei in Wahrheit gar kein richtiger Sozialdemokrat. Wer das tut, will ihm entweder schaden, oder er hat ihn und seine politische Sozialisation nicht wirklich verstanden. Richtig sei, räumt Steinbrück ein, dass er nicht wegen der Arbeitnehmerinteressen in die SPD eingetreten sei, sondern wegen Willy Brandt und seinem Anliegen, die verstockte deutsche Nachkriegsgesellschaft zu öffnen und mit mehr Freiheiten auszustatten. Aber dieses Verlangen nach Freiheit, der Wunsch nach Öffnung und die Sehnsucht nach neuen Wegen machen ihn doch nicht zum Parteifremden! Immer wieder weist er in Reden und Aufsätzen darauf hin, dass Willy Brandt, die flügelübergreifende Ikone der SPD, die Freiheit unter allen Werten am höchsten geschätzt habe, höher noch als Gerechtigkeit und Solidarität. Weil sie, so Brandt, die Grundlage aller anderen demokratischen Werte sei.
In der Tat hat Brandt in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender am 14. Juli 1987 sein politisches Vermächtnis an die SPD wie folgt formuliert: »Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit … Deutsche Sozialdemokraten dürfen Kränkungen der Freiheit nie und nimmer hinnehmen. Im Zweifel für die Freiheit!«
Wie stark das Thema selbst in einer liberalen und enttabuisierten Mediengesellschaft immer noch ist, zeigte nicht zuletzt Joachim Gauck. Mit seinem eindringlichen Bekenntnis zur Freiheit faszinierte der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Stasi-Aufklärer die Deutschen und errang damit als einer der wenigen Bundespräsidenten die Unterstützung fast
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