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Steinbrück - Die Biografie

Steinbrück - Die Biografie

Titel: Steinbrück - Die Biografie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Goffart
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»Staat im Staate« entwickeln. Die neuen deutschen Streitkräfte wurden parlamentarisch kontrolliert und mussten sich in die Strukturen einer demokratischen Gesellschaft integrieren. Das alles setzte voraus, dass der Soldat nicht nur als Befehlsempfänger mit eingeschränkten Rechten diente, sondern als Staatsbürger ernst genommen wurde, der lediglich im militärisch begründeten Ausnahmefall auf einen Teil seiner Bürgerrechte verzichten musste. Aus diesem Reformkonzept entwickelte sich das Bild vom »Staatsbürger in Uniform«. Als Vordenker gelten neben den Generalleutnants Hans Speidel und Adolf Heusinger vor allem die Offiziere Johann Graf von Kielmansegg, Wolf Graf von Baudissin und Ulrich de Maizière, der spätere Generalinspekteur der Bundeswehr und Vater des heutigen Bundesverteidigungsministers Thomas de Maizière.
    Was inzwischen als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird, war in der Bundeswehr der Sechzigerjahre eine höchst kontrovers diskutierte Angelegenheit. Zwar gab es viele Konzepte und Beschlüsse zum Thema Innere Führung, aber im Alltag der Truppe war von diesem fortschrittlichen Gedankengut oft wenig zu spüren. Die Nachkriegsstreitkräfte waren zu dieser Zeit noch durchsetzt von Wehrmachtsoffizieren, denen das neumodische Gerede über die Rechte der Soldaten als überflüssig erschien. Außerdem mache es die Mannschaftsgrade im Zweifelsfall aufsässig und verkompliziere den Dienstalltag, lauteten die Gegenargumente.
    Es gab nach Steinbrücks Erinnerung eine ganze Reihe von Obersten und Majoren, die noch voll und ganz den alten Geist der Reichswehr verkörperten, der zu Teilen eben auch Hitlers Wehrmacht geprägt hatte. Gegen diese Offizierskaste traten die jungen Nachwuchskräfte der »Leutnant-70«-Bewegung an. Sie waren, anders als viele ihrer Altvordern, zutiefst überzeugt vom Leitbild des »Bürgers in Uniform«. Sie wollten mündige Soldaten, ein offeneres Klima und setzten sich dafür ein, den neuen republikanischen Geist in der Bundeswehr zu etablieren.
    Steinbrück trat, als er den entsprechenden militärischen Rang erreichte, auf Betreiben seines unmittelbaren Vorgesetzten Hittmeier sofort der »Leutnant-70«-Bewegung bei. Zuvor hatte ihn Hittmeier noch zu einer anderen Gruppe eingeladen: der SPD. Der Leutnant war nämlich selbst ein überzeugter Genosse und hatte in vielen Gesprächen mit Steinbrück gemerkt, dass er den jungen Mann möglicherweise für die Partei gewinnen konnte. Also fragte er ihn, ob er nach Dienstschluss einmal mit zu einer politischen Veranstaltung kommen wolle. Steinbrück willigte ein und landete bei einer SPD-Versammlung. Die Diskussionen dort gefielen ihm ebenso wie die recht bunte Mischung von Leuten.
    Die SPD begann sich in jener Zeit zu einer Volkspartei zu wandeln, die auch für Angestellte und Akademiker attraktiv wurde. Die Grundlage dafür war bereits im »Godesberger Programm« gelegt worden, mit dem die SPD Abschied von ihrer alten Rolle als Arbeiterpartei genommen und sich für neue Gruppen geöffnet hatte. Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg setzte nämlich hinsichtlich der soziologischen Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung eine zunehmend stärker werdende Veränderung ein. Die Unterschiede zwischen Land und Stadt schwanden, die Zahl der Angestellten nahm zu, und die Bedeutung des Agrarsektors ging kontinuierlich zurück. Es gab immer weniger Bauern und Menschen, die noch in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Die rückständige deutsche Provinz begann in der jungen Bundesrepublik den Anschluss an die Moderne zu finden. Die Unterschiede hinsichtlich Einkommen, Berufszugehörigkeit, Konsumgewohnheiten und Kleidungsverhalten verringerten sich erheblich. Die Massenmedien und hier vor allen Dingen das Fernsehen erreichten jeden Winkel des Landes. Zunehmend stieg auch in den Dörfern und Kleinstädten der Bildungsstand. Die Bedeutung der ländlichen Regionen als Bastion der Konservativen schwand damit zusehends.
    Ebenfalls entscheidend für die Weiterentwicklung der SPD war die fortschreitende Gleichsetzung von Arbeitern und Angestellten in der boomenden Industrie der Aufbaujahre. Diese geschah durch Reformen der Arbeitsgesetze und vor allem durch neue Tarifverträge, die von den Gewerkschaften durchgesetzt wurden. Auch der rasch wachsende Dienstleistungssektor und die Technisierung der Arbeitswelt führten zu einem neuen Typus von Angestellten. Diese breite Mittelschicht ordnete sich selbst weder dem klassischen Bürgertum zu noch

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