Steine der Macht: Das Isais-Ritual am Untersberg (German Edition)
den alten Gasthof mit dem davorstehenden Marmorbrunnen kurz vor Einbruch der Dämmerung. Wolf nahm das Kuvert mit den Fotos von San Borondon aus seiner Tasche und gab sie Weber für General Kammler mit. Auch die Bitte, das Chronoskop bald wieder ausprobieren zu dürfen, ließ er dem General noch ausrichten. Der Obersturmbannführer versprach, dies zu tun, und verabschiedete sich von ihm. Weber nahm seinen Rucksack und machte sich zu Fuß auf den Rückweg zur Station im Untersberg.
Wolf stieg ebenfalls aus seinem Wagen. Er öffnete den Kofferraum und wechselte noch sein Schuhwerk. Da stand plötzlich Thomas, der Sohn von Anton, dem Gastwirt, hinter ihm: „Waren Sie wieder am Berg unterwegs? Ihr Begleiter hatte ja einen ziemlich schweren Rucksack dabei.“ Er meinte damit offensichtlich Obersturmbannführer Weber, den er noch kurz beim Aussteigen aus Wolfs Wagen beobachtet hatte.
„Ja, das ist ein alter Bekannter von mir“, erwiderte Wolf, „dem habe ich gerade einige interessante Stellen rund um den Untersberg gezeigt.“
Er konnte sicher sein, dass Thomas keine Ahnung hatte, wer der Mann mit dem Rucksack war.
Thomas bat Wolf noch in den Gasthof hinein. Er hätte ihm etwas Wichtiges zu erzählen.
Sie setzten sich an den Tisch beim grünen Kachelofen, und der junge Wirt begann:
„Neulich habe ich mit einem Taxifahrer aus der Stadt gesprochen, der hat mir eine interessante Geschichte erzählt, die sich vor vierzehn Jahren hier am Fuße des Untersberges zugetragen hat. Klaus Ring, ein Künstler – er war Musiker und Maler – hatte sich in einer Oktobernacht von einem Lokal in Salzburg hierher zum Berg fahren lassen. Es war bereits nach zwei Uhr nachts. Er erzählte dem Taxifahrer, dass für den nächsten Tag eine Vernissage geplant war. So etwas hätte ihm vermutlich zu großem Ruhm verholfen. Das Ganze stand bezeichnenderweise unter dem Motto ‚Requiem‘. Ring, der schon Tausende Bilder gemalt hatte, ließ sich vom Taxifahrer direkt an den Fuß des Untersberges fahren. Er stieg dort am Waldrand aus. Der Fahrer glaubte noch, einen blaugrünen Schein im Wald, in dem Klaus Ring verschwunden war, gesehen zu haben. Danach fehlte von dem Künstler jede Spur.
Sämtliche Medien berichteten damals über dieses seltsame Verschwinden. Die Kriminalpolizei ermittelte in dem mysteriösen Fall besonders sorgfältig, aber es gab keinerlei Hinweis, was geschehen sein könnte. Ring hatte weder viel Geld noch Reisepass und Kreditkarte bei sich gehabt. Dafür hatte er aber einige Tage zuvor einem Freund etwas von einem geheimnisvollen Mann am Untersberg erzählt, zu dem er gehen wollte, um sich ihm zu stellen – was immer er auch damit gemeint haben mag.“
Wolf hörte Thomas interessiert zu und antwortete: „Ich habe von dieser Geschichte auch schon gehört, ich weiß aber selber nicht, was ich davon halten soll.“
„Ja, das ist es eben. Keiner kann etwas dazu sagen, aber es passt irgendwie zu diesem Berg. Hier bei uns geschehen doch ziemlich oft eigenartige Dinge, die sich nicht erklären lassen“, sagte Thomas. „Auch von meinem Vater habe ich schon viele Erzählungen gehört, die allesamt recht unglaublich klingen. Aber wenn man jemanden fragt, dann will kaum einer etwas gehört haben. Ich glaube die Leute haben eine gewisse Scheu, über diese Dinge zu sprechen.“
Wolf nickte. „Wahrscheinlich haben die Menschen einfach nur Angst, für verrückt gehalten zu werden, wenn sie von so etwas erzählen würden.“
Kapitel 8
Die Zeitschleuse
An einem schönen Frühsommertag wollten Wolf und Linda nochmals zu dem mit einem Hologramm getarnten Eingang am Berg hinaufgehen. Sie nahmen die Silberplatte mit den kryptischen Zeichen mit. Möglicherweise hatte sie tatsächlich etwas mit einem Öffnungsmechanismus zu tun, wie Wolf schon vermutet hatte. Diesmal war gutes Bergwetter vorhergesagt worden, und die beiden brauchten sich wegen eines Gewitters, so wie beim ersten Mal, keine Sorgen zu machen. Das Gras war am frühen Vormittag noch feucht und rutschig vom Tau der Nacht, und sie mussten daher abseits der Wanderwege vorsichtig sein. „Weißt du, dort drüben bei dieser kleinen Almhütte“, sagte Wolf und zeigte dabei nach rechts zum oberen Beginn der Almbachklamm, „da wurde vor vielen Jahren einmal ein Zahnarzt aus Berchtesgaden am Abend von einem Unwetter überrascht. Er musste dort notgedrungen übernachten, während die Blitze und der starke Regen am Berg ein gespenstisches Szenario erzeugten. Der Zahnarzt
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