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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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Palatin
öffnete die Augen. Allerdings begriff er rasch, sich noch immer in einem Traum
zu befinden. Denn er sah ja das viele Fleisch an den Wänden. Gleichzeitig lag
er im Bett eines der besten Hotels der Stadt und nicht etwa in einer
Schlachterei oder Folterkammer. Ob es sich dabei um Tierfleisch oder
Menschenfleisch handelte, konnte er nicht sagen. Er konnte nur sagen, daß die
massigen, auf eine rembrandtsche Weise feucht glänzenden Fleischstücke, die an
silbrigen Haken von der Tapete baumelten, ganz sicher nicht Teil der realen Hoteleinrichtung
sein konnten. Zudem regnete es Blut, als sei man in einem Roman von Stephen
King. Ein Traum also!
    Andererseits war Palatin klar, daß der Rhythmus von Spinning
Wheel, jener guten, alten Blasmusik von Blood, Sweat & Tears
eigentlich nur von seinem Handy herrühren konnte, das sich mit diesem alten
Hit zu melden pflegte. Ein Handy, das aus der Wirklichkeit in den Traum
hineinläutete, denn in Träumen gibt es keine Handys. - Schon klar, daß sich
dies schwer beweisen läßt, auch hat wohl noch niemand eine diesbezügliche
Untersuchung vorgenommen, aber aus irgendeinem Grund scheuen Mobiltelefone die
Traumlandschaften der Menschen. Als könnte ihnen dort etwas zustoßen.
    Und als sich Palatin in der Tat nun in seinem Traum zur
Seite neigte, zur anderen Bettseite hin, wo er während der Nachtzeit sein Handy
zu deponieren pflegte, lag da etwas ganz anderes, eine Art Kopf - Schwein,
Rind, Mensch, kaum zu sagen. Weil aber selbiger Schädel einen ziemlich
scheußlichen Anblick bot, der selbst noch die Grauslichkeit der Fleischstücke
und des Blutregens überbot, beeilte sich Palatin mit dem Erwachen und schlug
erneut die Augen auf.
    Das Zimmer lag im Dämmerschein eines anbrechenden, wolkenverhangenen
Tages: graues Licht, das durch die poröse Textur der Gardinen brach, aber ohne
einen Tropfen Blut dabei. Und auf dem unberührten zweiten Polster lag allein
Palatins Handy, das vibrierte und leuchtete und aus dem die Bläserklänge der
frühen 70er Jahre sich hochschraubten.
    Palatin schaute nicht, wer da anrief. Seine Nummer besaßen
sowieso nur Leute, die es sich herausnehmen konnten, ihn so früh am Morgen aus
dem Schlaf zu holen. Er sprach ein müdes "Ja?".
    "Sehen Sie aus dem Fenster, Palatin!"
    Das war alles. Der andere hatte aufgelegt, und zwar mit
einer hörbaren Wucht. War es möglich? War das wirklich die Stimme des Oberbürgermeisters
gewesen? Eines Mannes, der sich ja nicht nur vor der Öffentlichkeit versteckte,
sondern auch seine Mitarbeiter gerne im Stich und im unklaren ließ. Sowenig er
in seiner ungeschickten und schlaksigen Art an einen machtvollen Paten
erinnerte, sosehr liebte er es, seine Ansprüche mittels einer bloßen Andeutung
in die Welt zu setzen. Seine Gefolgschaft sollte dann schon wissen, was genau
er sich wünschte und in welcher Form er es gerne ausgeführt sah. Manche
meinten, der gute Mann würde Entscheidungen scheuen und sich darum so gerne in
eine Kryptik halber Sätze flüchten. Andere wiederum vermuteten eine
Bösartigkeit, die sich in ganzen Sätzen nicht ausdrücken ließ.
    Anstatt nun aber aus dem Bett zu springen und der
Anweisung seines obersten Chefs zu folgen, also aus dem Fenster zu sehen, zog
sich Palatin die Decke über den Schädel. Einen Schädel, der ihn inkommodierte.
Der vorangegangene Tag war ein schwerer gewesen, hatte lange gedauert und war
mit mehreren Gläsern Whisky in der neu eingerichteten, von aller Natur
befreiten John-Cranko-Lounge des Hotels zu Ende gegangen. Er hatte dort an der
Bar einen Kommissar aus München kennengelernt, welcher sich allerdings über den
Grund, in Stuttgart zu sein, in keiner Weise ausgelassen hatte. Ebensowenig wie
er selbst, Palatin, darüber gesprochen hatte, was er hier tat und weshalb er
in selbigem Hotel schon seit geraumer Zeit untergebracht war. Nein, es war
einzig und allein um Filme gegangen, wobei man sich vor allem über Coppolas Apocalypse
Now unterhalten hatte, über jenes bildgewaltige Kriegsepos mit
einem wunderbar fetten und monströsen Marlon Brando, einer verkommenen
Buddhastatue von Mensch. Ja, er mochte diesen Film, das Häßliche wie das
Komische, die Dschungelgemälde, die Hitze, die Feuchtigkeit, den Verfall. Wie
auch immer, es war schön gewesen, sich einmal nicht über die Arbeit zu
definieren, nicht zu sagen, was man tat und wie wichtig das war, was man tat.
    Dabei hatte Palatin genau an diesem Tag in der Tat
Wichtiges unternommen. Er hatte Mach gefeuert, er hatte

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