Steinfest, Heinrich
hatte geschehen können,
daß auf einem Gebiet, wo ja nun wirklich Tag und Nacht die Polizei unterwegs
war und man sogar schon begonnen hatte, gewisse Parkschützer durch das LKA
überwachen zu lassen, daß ausgerechnet hier die Installation eines stark
gespannten Hochseils möglich geworden war. Eines Seils von solcher Länge.
Aber die Katastrophe war noch nicht zu Ende. Denn als nun
Felix Palatin aus seiner Arbeitstasche ein Fernglas zog und es hinüber auf den
Mann auf dem Seil richtete, da hätte er sich nach einem ersten Blick gern
zurück ins Bett und zurück in seinen Traum gewünscht. Lieber Fleisch an der
Wand als so etwas. Denn was er jetzt im Okular zu sehen bekam, war das Profil
jenes Mannes, von dem er gemeint hatte, er befinde sich bereits auf der
Heimreise nach Kassel: Wolf Mach.
Das Menschlein als Seiltänzer.
Palatin besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Ihm fiel
sofort wieder ein, daß in den biographischen Unterlagen, die er selbstredend
über Wolf Mach angefordert hatte, etwas über dessen zwei Leidenschaften
gestanden hatte, Leidenschaften jenseits der Archäologie: das Go-Spiel und den
Seiltanz. Wobei angeführt worden war, daß Machs Begeisterung für das japanische
Brettspiel in keiner Weise mit seinen Fähigkeiten übereinstimme. Jemand hatte
gesagt: "Der spielt Go, als würde er auf einer Kinderparty Schokolinsen
verteilen." Daraus wiederum hatte Palatin den Schluß gezogen, daß Mach
auch als Hobbyakrobat eine Niete war. Ohnehin hatte das eine wie das andere
keine Bedeutung dafür gehabt, Machs Eignung für Stuttgart zu bewerten.
Nun, das war ganz offensichtlich ein Fehler gewesen.
Richtig. Denn was Palatin nicht gewußt hatte - es in
seiner Tragweite aber sowieso nicht hätte begreifen können -, war Machs frühes
Talent dafür, sich auf einem Seil über die Welt zu erheben. Bereits im
Kindesalter war ihm dieser Weg als der reizvollste erschienen. Das Seil war der
einzige Ort gewesen, an dem seine Schwermut, dieses ständige Gefühl
tatsächlicher und ungeweinter Tränen, sich aufgelöst hatte zugunsten einer
Lebensfreude, einer Leichtigkeit. Zudem hatte Mach es stets als ein "Zeichen"
aufgefaßt, an einem 7. August im Jahre 1974 auf die Welt gekommen zu sein, also
genau an dem Tag, der zu den wichtigsten der Hochseilartistik zählt, nein, der der wichtigste
ist.
Bekanntlich trug Mach ja das Foto von Derek de Solla
Price, dem legendärsten Vertreter der Antikythera-Forschung, ständig bei sich.
Aber das stimmte nur halb. Es waren nämlich zwei Fotos,
die, fein säuberlich in dünnes Papier gefügt, in seinem Portemonnaie lagerten.
Zwei Helden. Auf dem anderen, gleich großen Bild war Philippe Petit zu sehen:
Zauberkünstler, Pantomime, vor allem aber der Mann, der wie kein anderer den
Hochseilakt in ein künstlerisches und gesellschaftliches Manifest verwandelt
hatte. Petit war es gewesen, der genau am 7. August 1974, vierhundertsiebzehn
Meter über der Erde, auf einem zwischen den beiden Türmen des World Trade
Centers gespannten Seil eine dreiviertel Stunde lang zugebracht hatte, und
zwar nicht in der Art eines Akrobaten oder Extremartisten, sondern im Stile
eines Gedichts, das die Welt erklärt, ohne Fragen zu stellen und ohne Antworten
zu geben. Darum auch war Petit im Zuge seiner darauf folgenden Verhaftung nie
bereit gewesen, über das Warum seiner Aktion Auskunft zu geben. Selbst die
Illegalität seiner Handlung - unerkannt auf das Dach der Türme zu gelangen und
unter schwierigsten Bedingungen ein Seil zu spannen - war ja nicht geschehen
im Dienste einer moralischen Belehrung, sondern allein als ein Ausdruck puren
Übermuts, des kindlichen Hineingehens in die Welt der Erwachsenen, des
Räuber-und-Gendarm-Spiels als konkretes Verfahren, das letztlich keinem
schadet, sondern allen nützt. Folgerichtig erklärte im nachhinein einer der
Polizisten, die am Dach gewesen waren, und zwar im Ton eines Erleuchteten,
etwas gesehen zu haben, "das niemand anderer mehr sehen wird, was es nur
einmal im Leben gibt". Ja, man mochte meinen, dieser Polizist sei dank
einer wunderbaren Fügung auf dem Mond gewesen, um jetzt zu berichten, daß es
dort oben tatsächlich einen Bewohner gebe und daß er nie einem glücklicheren
und erhabeneren Wesen begegnet sei.
Wenn Petit philosophierte, diese beiden Türme seien allein
gebaut worden, damit er hier seinen Akt vollziehen könne, dann muß man sagen:
Stimmt, genau so schaut es aus. (Natürlich waren die Twins auch errichtet
worden, um einst auf
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