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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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danach sehnte,
jemanden zu quälen - er war ja nicht krank. Auch kein Geheimdienstler, sondern
jemand, der die Leute koordinierte. Aber die Vorstellung, einen Menschen zu
töten, um solcherart eben jene Koordination aufrechtzuerhalten, war überaus
reizvoll. Wobei Palatin nicht so dumm war zu meinen, er würde mit einer
derartigen Einstellung in den Himmel kommen, nur weil dieser Himmel vielleicht
von der CDU regiert wurde. Im Gegenteil. Er kannte sich mit dem Himmel aus und
wußte, daß er niemals wieder dorthin gelangen würde. - Für ihn war das Leben
lediglich ein böses Spiel. Und er wollte es gut spielen.
    Palatin warf die Decke zur Seite, richtete seinen
Oberkörper auf und drehte sich, die Füße aus dem Bett hebend. Eine Weile saß er
gebeugt da, beförderte sich sodann mit einem Seufzer in eine senkrechte
Position und holte sich aus dem Bad ein Glas Wasser, in das er eine
Brausetablette versenkte. Während sich das Pulver sprudelnd auflöste, trat
Palatin ans Fenster, schob die Gardine zur Seite und sah auf den Schloßgarten
hinaus.
    Was hatte er erwartet?
    Nun, am ehesten eine erneute Baumbesetzung. Oder endlich
ein paar gefällte Sträucher. Vielleicht eine kleine Zeltstadt, die ein paar von
den Ökotypen errichtet hatten. So was in der Art. Jedenfalls nichts, was ein
größeres Problem darstellte als die Vernichtung eines im Erdboden verharrenden
antiken Großrechners, der nicht rechnete.
    "O Mann!" entfuhr es Palatin. Er stellte das
Glas zur Seite und öffnete das Fenster. Er hatte trotz des Dunstes, der über
dem Schloßgarten lag, einen ausgezeichneten Blick auf das, was seinen
Auftraggeber dazu getrieben hatte, ihn in aller Früh aus dem Bett zu holen. Und
was wohl eine ganze Menge Leute in diesem Moment aus dem Bett holte.
    Ein Seil.
    Ein Seil, wo noch nie eines gewesen war. Ein Drahtseil,
das sich über den gesamten Schloßgarten spannte und eine Verbindungslinie
zwischen dem Mercedesstern auf dem Bahnhofsturm und der Parabolantenne des
Planetariums schuf. Wobei das Seil natürlich schräg nach oben führte, von der
achtzehn Meter hohen Stufenpyramide zur sechsundfünfzig Meter hohen
Turmspitze. Zwecks Stabilisierung war im Parkbereich senkrecht zum Hauptseil
ein Abspannseil montiert worden, dessen beide Enden genau im umkämpften
Erdreich befestigt waren, während ein weiteres, nördliches Abspannseil
waagrecht zurück zum Bahnhofsturm verlief, verankert an dessen Brüstung, denn
wäre es senkrecht verlaufen, hätte es auf die Straße münden müssen, was
selbstverständlich nicht möglich war. Nun, das Ganze hatte etwas Unmögliches,
andererseits aber handelte es sich unverkennbar um eine höchst professionelle
Arbeit, da hing nichts durch, alles schien präzise befestigt, alles im Dienste
eines gestrafften und gegen Ausschwingungen gesicherten Seils.
    Und auf diesem Seil, genau in der Mitte zwischen Stern und
Antenne, zwischen Turm und Pyramide, in der Mitte eines ein Zoll dicken
Drahtes von etwas über dreihundert Metern Länge, hoch über den Menschen, hoch
über den Bäumen, fast vierzig Meter, bewegte sich ein Mann mit einer zu beiden
Seiten geneigten Balancierstange weiter nach oben Richtung Turm. Diese Stange
mutete so riesenhaft an, ja so unpraktisch eigentlich, als wollte der Mann, der
sie trug, sich seinen Auftritt erschweren, ein Handikap schaffen, weil für ihn
das Dahinschreiten auf schmalem, gerundetem Untergrund gar so leicht war. - Die
Stange war in der Tat gewichtig, aber das mußte sie auch sein, um das
Trägheitsmoment zu erhöhen. Ohne Stange hätte es diesen Mann vom Seil geweht.
    Wieso eigentlich Mann? Konnte es
nicht auch eine Frau sein? Wenn man bedachte, wie schlank und zierlich diese
Gestalt auf dem Seil wirkte? Und doch, es war ganz sicher ein Mann. Das
Mannsein war nicht zu übersehen: diese Sicherheit, diese Vollkommenheit, zu der
nur Testosteroniker in der Lage sind, allerdings allein dann, wenn sie sich in
Gefahr befinden. Ohne Gefahr sind sie ungelenk, verwirrt, überfordert. In
einer Welt ohne Gefahr bewegen sie sich weniger wie mit einer Krücke, sondern
so, als fehlte ihnen die Krücke. Ja, die Gefahr ist die
Krücke. Beim Autofahren wird das ganz deutlich: Männer müssen schnell und
riskant fahren, um auch gut zu fahren, fahren sie langsam, fahren sie
schlechter als ein Schimpanse im Intelligenztest, ja schlechter als jede
halbblinde Pensionistin.
     
    Nun, das war natürlich eine Katastrophe, was hier
geschehen war. Man mußte sich fragen, wie das überhaupt

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