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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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eine dramatische Weise zerstört zu werden. Das kann man
Artefakten nämlich durchaus ansehen, ob ihre Zerstörung Teil der Konzeption ist
- ein Rennwagen, der gebaut wurde, um zu verunglücken, ein Spaceshuttle, das
explodieren, eine Brücke, die einstürzen wird. In der Schönheit und Macht
dieser Türme spiegelte sich von Anfang an ihr Untergang, wie bei diesen
Menschen, bei denen man gleich weiß, daß sie jung sterben werden.)
    Dieser Mann, Philippe Petit, und dieses Ereignis
bedeuteten die harmonische Verbindung zweier gewaltiger Bauten mit einem einzigen
Menschen. Der Umstand nun, daß dieses Ereignis am Tag seiner Geburt geschehen
war, hatte Wolf Mach lange Zeit gefangengenommen und nicht zuletzt dazu
geführt, selbst die Kunst des Seiltanzes zu erlernen. Und zwar mit Erfolg. Doch
so gut er darin geworden war, war ihm in keinem Moment eingefallen, aus der
Obsession eine Profession zu entwickeln, auch hatte er nie versucht, Petit
aufzusuchen.
    Dennoch war Mach zum perfekten Seiltänzer geworden. Es war
kaum zu fassen, was er hier tat, wie er da mit seiner langen Balancierstange
aufwärts marschierte, nahe an den Turm, den Mercedesstern, die
Aussichtsplattform, dort, wo sich ein Pulk von Reportern versammelt hatte,
Fernsehteams, Fotografen, während außen am Geländer gesicherte Aktivisten saßen
und die Verankerung des Hauptseils wie des Abspannseils kontrollierten. Man
hatte die Presse so frühzeitig informiert, daß diese noch vor der Polizei
eingetroffen war.
    Eine Polizei, deren Eingreifen sich ohnehin wohl
hinauszögern würde. Das Terrain war mehr als heikel. Darum nämlich, weil zwar
sämtliche Aktivisten - die am Turm genauso wie die auf der Pyramide - bestens
vertäut waren, aber natürlich nicht der Mann auf dem Seil, der nun ganz im
Stile Petits nahe an den Turm wanderte, dann jedoch die Anweisungen der
Sicherheitsbeamten, sofort herunterzusteigen, mit einem Lächeln quittierte,
eine Kehre vollzog und in der Folge die Schräge abwärts wanderte - ruhig,
konzentriert, wobei man fast den Eindruck gewinnen konnte, er würde kleine
Unsicherheiten einbauen, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, hier
bestehe irgendein Trick, der einen Absturz verunmögliche.
    Auch unten auf der Straße kamen jetzt immer mehr Menschen
zusammen, um die Köpfe nach oben zu recken. Sämtliche Fahrzeuge hielten an,
die Leute verließen ihre Autos, eigentlich ganz in der Art, wie man es aus
Katastrophenfilmen kennt, wenn der Verkehr zum Erliegen kommt und alle
aussteigen, um nach oben zu sehen, hin zu dem Kometen, der auf sie zurast. Und
auf eine Art war Mach ja auch ein Komet und eben alles andere als ein Zirkusclown.
Obgleich die Seiltanzerei in der Regel eine bedauerliche Darbietung
exzentrischer Fortbewegung ist.
    Das Zauberische an diesem Moment war nun, daß Mach -
obwohl er auf seinem Weg zwischen dem Bahnhofsturm und dem Planetarium gar
nicht erst versuchte, etwas Unwiederholbares zu wiederholen - in seinem Gang
und seiner Haltung dennoch die gleiche stille Poesie, die gleiche ätherische
Erhabenheit schuf, die auch am Tag seiner Geburt hoch oben in den Lüften von
New York das Bild bestimmt hatte.
    Stuttgart war nicht New York, richtig. Petit war nahe den
Wolken gewesen, Mach hingegen hatte zwischen Himmel und Erde eine schmale,
längliche Nische gefunden, eine schwäbische Nische, als Komet, der über dem
Boden schwebte. Aus dem Himmel kommend, auf die Erde schauend, diese aber
verschonend.
    Es wäre völlig überflüssig gewesen - zudem das Kunstwerk,
das hier geschah, verderbend -, hätte Mach jetzt von seiner hohen Position aus
ein Transparent entrollt. Wozu auch? Es war ja vollkommen klar, in welcher
Angelegenheit er hier zugange war, welchem Zweck dies diente. Er mußte wirklich
nicht "Oben bleiben!" schreien, er brauchte die eigene Tat weder zu
unterstreichen noch zu betiteln. Er brauchte auch kein lichtgrünes Gewand zu
tragen oder das Logo des Alternativprojekts auf Brust und Rücken zu
präsentieren. Er war die Parole selbst. Und darum ging Mach nun, nachdem er
zweimal hinauf- und hinuntermarschiert war, in die Knie, löste eins der Beine,
um es nach unten hängenzulassen, und legte seinen Rücken auf dem Seil ab, wobei
er die Balancierstange auf seinen Unterleib bettete. Damit zitierte er
natürlich erneut seinen Helden, zitierte eine der berühmten Twin-Tower-Szenen:
das schwanenhaft Elegante und Ruhige.
    Und dort verblieb er eine ganze Weile. Wie um den Menschen
unter ihm Zeit zu geben, sich zu

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