Steinfest, Heinrich
frischen Atem
beeindrucken zu können? Blödsinn! Er lachte in den Spiegel.
"Wir sind spät", erklärte Kingsley. Sie hatte
nicht im Wagen, sondern vor der Tür gewartet. Mach konnte nicht anders, als
ihre makellose Figur zu betrachten. Nicht, daß ihm diese Frau keine Angst
machte, aber das war es ja: lieber von ihr beschützt werden als umgekehrt.
Zum Bahnhof waren es mit dem Wagen nur wenige Minuten. Ein
massives Gebäude, das die einen als Naziarchitektur empfanden, andere als
kathedralisch und als Architekturjuwel, das indes in jedem Fall beeindruckte,
so wie es da stand, so wehrhaft wie elegant, jedoch nicht auf eine stehende
Weise, sondern liegend, hingestreckt, ohne darum lasziv zu wirken. Ohne wie so
mancher jüngst gebaute Bahnhof, etwa der in Berlin, an einen riesigen Puff zu
erinnern, den ein paar überirdische Zuhälter abgestellt hatten, um die
Menschheit moralisch zu ruinieren. Nein, dieser Bau leugnete in keiner Weise
seinen Zweck, der schließlich darin bestand, einen Kopf zu bilden beziehungsweise
einen Nabel, denn genau so - umbilicus sueviae, der Nabel
Schwabens - hatten die Architekten Bonatz & Scholer ihren Entwurf genannt.
(Allerdings löste sich, wie so oft im ungerechten Leben, der Name Scholer
später in Luft auf, so daß nur der Name Bonatz übrigblieb und seitdem
allgemein vom "Bonatzbau" gesprochen wird, wenn von diesem Bahnhof,
diesem Nabel mit Hirn die Rede ist.)
Apropos Urheberschaft. Es gibt den schönen Satz, der da
lautet: "Wie groß der Anteil Scholers an den gemeinsamen Projekten war,
läßt sich nicht mehr objektiv feststellen." Solche Sätze werden gerne
gebraucht, um der Ratlosigkeit des Betrachters zu begegnen, wenn aus einem
berühmten Namen ein völlig unbekannter Name herausbricht. - Hat Bert Brecht
wirklich seine Bücher selbst geschrieben? Stammen Wittgensteins Ideen wirklich
von ihm und nicht etwa von Paul Engelmann oder David Pinsent oder sonstwem? Hat
Picasso gemalt oder vielmehr abgemalt? Hat Gerd Müller wirklich alle ihm angerechneten
Tore allein erzielt? Ist ein abgefälschter Schuß, der ins Netz geht, dem
Schützen zuzuordnen oder nicht eher dem Bein des unglücklichen Abfälschers?
Oder eben: Ist der Bonatzbau in Wirklichkeit ein Scholerbau?
Wie auch immer. - Kingsley führte Mach in die große
Schalterhalle, deren hoch aufsteigender Raum den letzten Zweifel nahm, nicht im
Puff, sondern in einem domartigen Gebilde sich zu befinden, im Inneren eines
zur Bauchnabelbildung fähigen Plazentatiers von nicht geringer Erhabenheit.
Oben auf Gleishöhe, dort, wo ein Aufzug zur
Aussichtsplattform des Bahnhofsturms führte, wurde Mach von jenem angekündigten
Mitarbeiter des Bürgermeisters empfangen. Felix Palatin war ein etwa
dreißigjähriger Mann, der möglicherweise wie Kingsley aus vielen kleinen
widerstandsfähigen Kacheln zusammengesetzt war, Hitzeschilder wie bei den
Spaceshuttles, deren Verlust bekanntlich fatale Folgen zeitigt. Aber Palatin
war gewiß vorsichtig genug, sich immer und überall im richtigen Neigungswinkel
zu bewegen und nicht etwa zu verglühen. Er reichte Mach die Hand, lächelte.
Sein dunkles Haar, sein Anzug, seine Schuhe lächelten mit. Auch seine Brille,
die, mit hauchdünnem Rand ausgestattet, seinen silbriggrauen Augen den
schlierigen Glanz eines jener Martinis verlieh, deren Geschmack Mach trotz
Zahncreme noch immer auf seiner Zunge hatte. Er meinte in der Tat, diesen Mann
zu schmecken.
Palatin erklärte, wie froh er sei, daß Mach sich habe
entschließen können, nach Stuttgart zu kommen. Er sagte: "Ich soll Ihnen
die herzlichsten Grüße des Oberbürgermeisters ausrichten. Er ist gerade im
Ausland, würde sich aber freuen, Sie demnächst persönlich kennenzulernen."
"Ich bin auch lieber im Ausland", meinte Mach.
Palatin ignorierte die Bemerkung, gab Kingsley ein
Zeichen, und zu zweit leitete man Mach zum Aufzug. Sie fuhren zur Spitze hoch
und traten hinaus auf die Plattform, die nach oben hin von einem Netz umspannt
wurde, als wollte man verhindern, daß herabstürzende Engel die Besucher
erschlugen. Über das Netz hinaus ragte - erstaunlich für Mach - kein Kreuz,
nicht einmal ein Sendemast, sondern ein Mercedesstern. Das erschien ihm
peinlich, diese Verbeugung vor dem Kapital an einer Stelle, wo man sich ja
eher vor dem lieben Gott verbeugen sollte. Gleichzeitig wirkte der Stern hier
oben frei von den üblichen Bezügen, eher als Stern an sich, der sich gnädig vom
Himmel auf diesen Turm herabgesenkt hatte.
Doch das war es
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