Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
Vom Netzwerk:
ein lebendiges, atmendes Wesen begriff.
    Mit einem Wesen kann man befreundet sein oder in
Feindschaft leben. Nicht wenige Leute in dieser Stadt, so kam es Tobik vor, empfanden
sich als Gefangene dieses Ortes. Vor allem jene, welche die Schönheit eines
Riffs gerne mit seiner Größe verwechselten, somit meinten, ein mittelgroßes
Riff sei automatisch auch ein mittelmäßiges, ein großes immer auch ein
bedeutendes. Weil diese Leute nun aber ständig von ihrem Ehrgeiz getrieben
waren und gleichzeitig die eigene Bedeutungslosigkeit im Blick hatten, gaben
sie der Stadt die Schuld. Sie behaupteten eine Provinzialität Stuttgarts, um
sich die eigene Provinzialität zu erklären. Tobik freilich wußte, daß dies ein
Irrtum war. Er erkannte die Würde des Ortes und die Würdelosigkeit derer, die
meinten, die Stadt würde sie gar nicht verdienen, während in Wirklichkeit sie die Stadt
nicht verdienten.
    Für Tobik entbehrte es nicht einer gewissen Komik, daß
ausgerechnet der höchste Repräsentant dieser Stadt todunglücklich schien, hier
leben zu müssen. In seinem Blick lag eine ständige Trauer sowie ein Glitzern
der Wut darüber, nicht woanders sein zu dürfen, weil man woanders leider gerne
auf ihn verzichtete. So gesehen war er ein auf der falschen Insel Gestrandeter,
der die Eingeborenen dieses Eilands zu missionieren suchte. Nicht aber, indem
er mit ihnen redete - sein Ekel vor den "Nackten" war viel zu groß -,
sondern indem er Predigten verschickte. Predigten, in denen er mit der
Sprachgewalt eines Moulinex-Zerkleinerers ankündigte, aus der Insel eine
gewaltige Parkgarage machen zu wollen. Alles gedachte er zu verwandeln.
Niemand sollte später erkennen, je auf einer Insel gelebt zu haben. Für diese
geplante Verwandlungstat wollte der gestrandete Prediger nun geliebt und
geachtet werden. Doch die Liebe war ausgeblieben, und die einzige Verwandlung,
die geschehen war, war das Umschlagen der Achtung in Verachtung gewesen. - Der
Gestrandete verstand die Welt nicht, zog sich tief in das Innere seiner Kirche
und seines Geistes zurück und dachte verbissen darüber nach, wie er die Nackten
am nachhaltigsten würde bestrafen können.
    Tobik hingegen erforschte inzwischen mit Leidenschaft
diese Insel, unterließ es jedoch, Mitglied in einem diesbezüglichen Verein zu
werden. Er war - um es deutlich zu sagen - nicht auf der Suche nach einer neuen
Partnerin, die er in einem solchen Verein hätte kennenlernen können. Er hatte
seine Liebe ja bereits gefunden, allen Ernstes, indem er tagtäglich mit der
Gelassenheit dessen, der die Macht seiner defekten Gliedmaße respektiert, mit
den öffentlichen Verkehrsmitteln die Stadt und ihre Ausläufer bereiste,
fotografierte, Skizzen anfertigte, Notizen machte und in der Folge in den
Archiven stöberte, um die Historie offenzulegen und die gewachsene Riffstruktur
besser zu verstehen, das Glück und das Leid, das sich aus den ständigen
Interventionen der Riffbewohner ergab.
    Das klingt nun ausgesprochen konservativ und war es ja
auch. Aber was hieß denn heutzutage schon "konservativ", was hieß "modern",
ganz abgesehen von "demokratisch" oder "gebildet"? Die
Wörter und Begriffe hatten ihre alte Bedeutung verloren, verwandelten sich, mutierten
zu spinnenhaften Gebilden, wo sich jeder das Spinnenbein aussuchen konnte, das
ihm gerade in den Kram paßte. Die Frage war somit nicht mehr, ob jemand "konservativ"
oder "modern" war, sondern auf welche Weise konservativ und auf
welche Weise modern. - Gut, das war schon immer die Frage gewesen, aber noch
nie so deutlich wie in dieser Phase gejagter und jagbarer Wörter.
    Tobiks Konservatismus bezog sich auf einen gewissen Respekt.
Man könnte auch sagen: auf eine Höflichkeit gegenüber den Gegenständen.
Höflichkeit schien genau das zu sein, was etwa die Natur vom Menschen
einforderte. Kein Mangel schien größer als jener der Höflichkeit. Die Welt
krankte an diesem Mangel. Wobei es keineswegs an Verbeugungen fehlte. Man
verbeugte sich, und dann schoß man. Man verbeugte sich vor dem Leben, vor Gott,
vor der Natur, dann schoß man. Tobik wollte an die Verbeugung auch eine
faktische Höflichkeit anschließen. Also nicht dem Wunder einer Blume ein
Gedicht widmen, um sodann mit dem Rasenmäher über das arme Ding drüberzufahren.
Sein Konservatismus hieß folglich Konsequenz. Die Konsequenz, sich entweder
für das Gedicht zu entscheiden oder für den Rasenmäher.
    Um es aber klar zu sagen: Tobik war kein Trottel. Er
wußte, daß ein Riff

Weitere Kostenlose Bücher