Steinfest, Heinrich
Namen zu nennen, was immer das
erste ist, was man tun kann, um seine Abscheu auszudrücken: den Namen des
anderen verschweigen. Es ging ihm allerdings ebensowenig darum, dem
Verachteten einen dämonischen Titel angedeihen zu lassen, denn dieser Mann war
frei von Dämonie, von überirdischen Qualitäten, er war kein Teufel. Sein ganzes
Wesen, selbst noch seine mimosenhafte Eitelkeit waren vollkommen erdgebunden,
frei von Metaphysik. - Auch das zeichnete den Niedergang der Sozialdemokratie
aus: es war ein unkünstlerischer, man könnte sagen, ein unästhetischer
Niedergang, nichts, was sich zur Verfilmung geeignet hätte. Keine Helden, keine
Heldinnen, sowenig ein Bruce Willis wie ein Heinz Rühmann, keine Jeanne d'Arc,
keine Rosa Luxemburg, keine vom Alkohol lädierte und dennoch zauberhafte Simone
Signoret, keine wirkliche Dame, sondern einzig und allein Funktionäre, die bleiern
in ihren Funktionen steckten - dicke Füße in zu schmalen Schühchen, sehr
chinesisch, sehr deprimierend.
Nichtsdestotrotz benötigte Tobik einen Namen oder eine
Bezeichnung für diesen verachteten Sozialdemokraten und Projektsprecher. Und
so nannte er ihn "Ratcliffe", nach dem Getreuen von Shakespeares
Richard III. (wobei Tobik die Verfilmung des Engländers Loncraine im Sinn
hatte, mit dem fulminant bösen Ian McKellen als skrupellose "bucklige
Kröte" Richard). Bezeichnenderweise fehlte in der ganzen Stuttgarter
Bahnhofsverschwörung ein Bösewicht von solchem Kaliber, weder der
schwächliche, sich vor seinen Bürgern geradezu verbergende Oberbürgermeister
noch der in Karikaturen seiner selbst versinkende ehemalige Ministerpräsident,
nicht einmal dessen Nachfolger - ein Mann von der Schönheit einer dorischen
Säule, mit der ein Unglück geschehen war - konnten eine richardartige Diabolie
verkörpern. Sie waren keine Königsmörder, sondern bloß Stadtmörder. Sehr
zutreffend hingegen erschien der Vergleich mit jenem Ratcliffe, der so farblos
wie treu seinem Herrn in den Untergang folgt. Auch wenn Tobiks Ratcliffe ein
Ratcliffe ohne einen Richard war, außer man war gewillt, den geplanten Bahnhof
als die Personifizierung Richards III zu begreifen.
Ratcliffes eiserne Position bestand in der Anschauung, der
Widerstand der Bevölkerung gegen ein Projekt, einen Plan, eine Reform, ein
Programm resultiere allein daraus, dieses Projekt, diesen Plan, dieses Programm
nicht eingehend und werbewirksam genug "kommuniziert" zu haben. Denn
das Programm konnte nicht falsch sein, nur die Propaganda dazu. Somit
ignorierte die Politik, daß die Bürger möglicherweise in der Lage waren, einen
Fehler zu erkennen, eine Bedrohung wahrzunehmen, eine Katastrophe zu riechen.
Nein, wenn die Ratcliffes dieser Welt eine Schwäche eingestanden, dann eben die
ungenügender Vermarktung. - Wäre die Politik ein Arzt gewesen, dann einer, der
ein von Krankheit befallenes Organ leugnet und dafür ein Werbebüro beauftragt,
die Gesundheit des Patienten bilderreich zu schildern. Die Politik war
schlimmer als die Zeugen Jehovas, welche die Krankheit zwar ebenfalls
unbehandelt ließen, aber wenigstens als göttliche Fügung begriffen.
Genau dieses Konzept radikaler Leugnung kranker Zustände
vermittelte Ratcliffe, der ja als Regionalpolitiker einigen Erfolg vorweisen
konnte, dessen joviale Volksnähe, dessen sozialdemokratisch-unverbindliche
Art, Schultern zu klopfen und mit den "kleinen Leuten" zu
fraternisieren, so lange Zeit gut angekommen war. Aber jetzt war das eben
anders. Keine Schulterklopferei half mehr, weil viele Menschen begonnen hatten,
auf ihre Schultern achtzugeben, sich nicht betatschen, sich nicht einfangen
ließen und statt dessen auf die Frage nach der Stärke geplanter Tunnelwände,
der Bedrohung der Mineralwasserquellen, der merkwürdigen Zusammenstellung der
Gutachter, dem nicht minder merkwürdigen Zustandekommen von Gerichtsurteilen
und Ausnahmeregelungen, den Auswirkungen der geplanten Baugrube mitten im
Herzen der Stadt, seinem zentralsten, auch sensibelsten Punkt, kurz, auf diese
und viele andere Fragen Antworten verlangten. Und nicht etwa Phrasen von einer
glorreichen Zukunft, in der man dank Durchgangsbahnhof schneller ein Flugzeug
würde erreichen können. Denn leider kommen Flugzeuge nicht nur manchmal zu
spät, sondern starten auch höchst selten früher als vorgegeben. Wozu also
zeitiger am Flughafen sein? Um was zu tun? Parfüme einzukaufen? Nervös auf und
ab zu rennen? Ausschau zu halten? Nach einem Wunder? Nach der Liebe des
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