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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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Zahlen, bei der
Manipulation der Expertisen und gerichtlichen Entscheide sowie der Vertuschung
der wirklichen Interessen ohne jene Virtuosität vorgegangen zu sein, die einen
guten Schwindler auszeichnet. Ebenso übrigens wie die Gabe des guten
Schwindlers, die Geschichte, die man anderen auftischt, präzise im Kopf zu
behalten und nicht im Zuge ständig neuer Auftischungen in Widersprüche zu
geraten, als hätte man gleichsam zwei Frauen die Ehe versprochen, zudem Frauen,
die sich kennen. Dank derartiger Ungeschicklichkeit wird der Schwindler zum
schlechten Schwindler, schlimmer noch, zum Lügner und verliert den Respekt.
    Freilich besteht die Macht einer prinzessinnenhaften
Politik nicht zuletzt darin, als Folge solcher Entlarvung nicht gleich abdanken
zu müssen. Das wußte Tobik, so, wie er wußte, daß selbst eine drohende
Wahlniederlage dann nicht zur Umkehr zwang, wenn die Umkehr als noch viel
größere Niederlage empfunden wurde denn der Verlust von Stimmen.
    Um so deutlicher ihm der Verstand dies alles vor Augen
führte, um so stärker keimte die Wut. Die Wut war ein Pilz, ein ungebrochen in
ihm wachsender, sich ausdehnender Schwamm, aber der Verstand blieb bestehen,
mehr noch: der Verstand analysierte die Wut. Die Wut wiederum war resistent
gegen solche Analyse, weil auch sie nicht dumm war. Im Gegenzug analysierte sie
ihrerseits die Vernunft: deren Verharren, deren Untätigkeit, deren Mangel an
Blut und Leidenschaft. Sie sagte zur Vernunft: Ja klasse, du bist vernünftig!
Und wie weit hat dich das gebracht? Bist du in der Lage, ein Magengeschwür zu
heilen? Oder bist du gar selbst der Grund für das Magengeschwür?
     
    So richtig in Wallung kam Tobiks Wut, als ausgerechnet ein
Sozialdemokrat für die S-21-Betreiber die Funktion als Sprecher übernahm, um
eine immer kritischer werdende Öffentlichkeit von der Notwendigkeit, der "Alternativlosigkeit"
und vor allem der "Unumkehrbarkeit" des Projekts zu überzeugen.
Tobik selbst war noch wenige Jahre zuvor Mitglied dieser Partei gewesen, für
einen Handlungsreisenden nicht gerade selbstverständlich. Zudem waren weder
seine Eltern noch seine Großeltern Rote oder auch nur annähernd Rote gewesen.
Seine Entscheidung für diese Partei war im Grunde ebenfalls eine des Verstands
gewesen. Der Verstand hatte gesagt, daß letztlich nur der soziale Friede eine
Gesellschaft menschenwürdig erhalte und daß die Möglichkeit zu einem solchen
Frieden allein durch die Sozialdemokraten gewährleistet sei. Es war diese
gewisse Vorsicht des reformerischen Geistes gewesen, die Tobik bejaht hatte.
Auf Revolutionen konnte er verzichten, auf neue Ausgrenzungen und neue Epochen.
Der Protest der Achtundsechziger hatte ihn kaltgelassen, die RAF-Geschichte
abgestoßen. Überdies hatte er da bereits im Berufsleben gestanden und die
heftigen Kontroversen als einen Kampf abseits des Realen empfunden. Gewiß, das
waren richtige Proteste und später dann richtige Tote gewesen. Trotzdem waren
sie ihm unwirklich erschienen, wie fürs Fernsehen geschrieben. Der Terror in
Wirklichkeit ein TV-Terror, zeitweise versetzt mit komödiantischen Brüchen auf
allen Seiten, damit es etwas zum Lachen gab. Einmal hatte er gesagt: "Ich
glaube, dieser Baader ist ein Schauspieler." Die anderen hatten natürlich
gedacht, Tobik finde, Baader habe schauspielerische Qualitäten. Aber er hatte
es anders gemeint, ohne sich jedoch weiter zu erklären, um nicht als meschugge
dazustehen.
    Gut, das war ihm
erspart geblieben. Nicht erspart geblieben war ihm hingegen, mit ansehen zu
müssen, wie die Sozialdemokratie sich in eine reaktionäre Null verwandelt und
dann selbst angezündet hatte, ohne wirkliche Not eigentlich. Und diese Null
verbrannte jetzt. Aber es war ein langsames Verbrennen, Zeit genug, noch da und
dort mitzumischen, Posten zu besetzen, Staatstragendes zu spielen, Worte zu
stemmen, leichte Worte, die nicht ins Gewicht fielen.
    Der Mann, der nun als Sprecher eines in erster Linie von
der CDU und CDU-Leuten und CDU-nahen Investoren getragenen Projekts fungierte,
vertrat symbolhaft den "modernen Geist" der Sozialdemokraten, deren
Anbiederung an die Macht, deren kindhaftes Dabeiseinwollen in höchsten
Gremien, deren Hang zu Vernunftehen, Ehen, an deren Ende sie alleingelassen
dastanden: verbraucht, welk, kaum noch in der Lage, das Rot auf ihrer Krawatte
vom Schwarz in ihrem Herzen zu unterscheiden.
    Tobik vermied es, diesen Mann, der auf Fotos gleich einem
humanoiden Geschenkkorb posierte, bei seinem

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