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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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beliebten Repertoire bei der Freisprechung von Königen.
    So sah das Tobik, und er sah es mit Wut und Verzweiflung.
Daneben kämpfte er aber gleichermaßen mit seiner ungeahnten Trauer über
Johannas Tod, ungeahnt darum, weil immerhin die Mutmaßung bestanden hatte,
daß, wo keine Liebe ist, auch der Schmerz sich in Grenzen hält.
    Doch der Verlust war eklatant. Tobik begriff, was es hieß,
alleine zu sein. Wie häßlich es war, in eine Wohnung zu kommen, die nicht für
eine, sondern für zwei Personen geschaffen worden war, woran sich trotz aller
Umräumerei nichts zu ändern schien. Der Tod seiner Frau hatte eine Lücke
geschlagen, die sich nicht füllen ließ. Sowenig er imstande gewesen wäre,
Johanna zu porträtieren, ihr beschreibend gerecht zu werden, sosehr litt er
unter ihrem Weggehen, ihrem Verschwinden. Er begriff die Welt als einen
einsamen Kontinent, einsam trotz der vielen Menschen und Termine und
Ablenkungen. Seine Frau war die andere Person auf diesem Kontinent gewesen. Und
jetzt war sie fort.
    Er ging weiter auf Reisen und versuchte, sich in Arbeit zu
flüchten. Aber das hatte er schließlich schon vorher getan. Und selbst für den
Fleißigen hat der Fleiß irgendwo seine Grenzen, und die Grenze wirft ihn zurück
auf die banalen Umstände des Alltags. Sogar die längste Liste ist einmal
abgehakt.
    Dann kam, Jahre danach, auch noch der eigene Unfall. Tobik
befand sich auf der Heimfahrt von Bruchsal nach Stuttgart. Er hatte im Zuge
eines langen Verhandlungsgesprächs zwei, drei Gläser Wein getrunken und wäre
gut beraten gewesen, ein Hotelzimmer zu nehmen. Aber es war ja erst später
Nachmittag gewesen, mitten im Sommer, hell und klar. Das Gewitter hingegen, in
das er geriet, verdunkelte den Tag. Er drosselte das Tempo, so vernünftig
verhielt er sich schon. Leider war dies praktisch nur die halbe Vernunft, weil
die ganze darin bestanden hätte, den Wagen an der nächstbesten Stelle
anzuhalten. Statt dessen fuhr er weiter, geriet ins Schlittern, geriet von der
ungnädigen Fahrbahn, rutschte über eine Böschung, überschlug sich und prallte
gegen einen Baum. - Später sagten Freunde gerne zu ihm: Du hättest tot sein
können. Er antwortete gerne: Ich hätte genausogut unversehrt sein können. Ja,
vielleicht stimmte das, vielleicht hätte er mit dem einen berühmten Kratzer aus
dem demolierten Wagen steigen können, Faktum jedoch war, daß er eine schwere
Verletzung seines Beines davontrug. Er würde nie wieder normal gehen können.
Seitdem hinkte er, nicht überdeutlich, dennoch war dies kaum zu verbergen.
Keine Therapie, keine Übung, kein Trick konnten daran etwas ändern. Das machte
ihn noch nicht zum vollständigen Krüppel und war eigentlich kein Argument, um
nicht weiter als Verkäufer im Außendienst tätig zu sein, aber irgendwie eben
doch. Sein Vorgesetzter schlug vor, daß man sich einvernehmlich trenne und
Tobik mit seinen achtundfünfzig Jahren und seiner partiellen Invalidität in
den Vorruhestand trete. Tobik indes wehrte sich, wollte nicht aufhören,
argumentierte, daß ja nicht sein Sprachzentrum, sondern nur sein Bein betroffen
sei und dieses ihn nicht hindere, in gewohnter Art die Produktpalette wortreich
und überzeugend zu präsentieren.
    "Nichts für ungut, bester Kollege", meinte sein
Vorgesetzter, "aber ich glaube, Sie vergessen völlig, was wir verkaufen,
nämlich medizinische Apparaturen. Ich will nicht sagen, daß man, um einen
neuen Herzschrittmacher zu offerieren, die hundert Meter in zehn Sekunden
laufen muß. Trotzdem wäre es von Vorteil, allein schon den Eindruck zu
vermeiden, hundert Meter wären eine schier unlösbare Aufgabe."
    "Soll ich Ihnen hundert Meter vorgehen?"
    "Sie müssen nicht beleidigt sein. Es geht um ein
simples psychologisches Phänomen. Wenn eine Hautcreme beworben wird, zeigt man
ein Gesicht, das diese Hautcreme gar nicht nötig hat. Produkte für Kranke
werden von Leuten vorgestellt, die gesund aussehen. Wenn Sie aber hinkend vor
unsere Kunden hintreten, erscheinen Sie als der lebende Beweis, daß die
Medizin doch nicht ganz soweit ist, wie sie sein sollte. Stimmt natürlich,
unsere Abnehmer sind selbst Mediziner oder verwalten ein Krankenhaus, dennoch
sind es Menschen, in deren Köpfen eine spontane Reaktion erfolgt. Und gerade,
weil es Ärzte sind, werden sie vor allem Ihr Bein sehen und weniger unsere neue
Insulinpumpe."
    Tobik war gedemütigt, zudem verblüfft ob solcher
Offenheit. Er sagte: "Wie können Sie nur so reden?"
    "Seien Sie doch froh.

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