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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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aus dem Rathaus, lauter Leute, mit denen der Unfallfahrer sich
unterhielt, als würde er hier die Ermittlungen leiten. Und in gewisser Weise
tat er das ja wohl. Wobei er keineswegs das gefühllose Monster markierte,
natürlich nicht, sondern sich erschüttert zeigte, daß diese arme Frau ihm, der
damit doch schwerlich habe rechnen können, vors Auto gesprungen war. Und zwar
in einer Weise, die sich nur erklären ließ, wenn man einen Selbstmordversuch
voraussetzte. Unmöglich für ihn, den Fahrer, der Passantin auszuweichen oder
rechtzeitig den Wagen abzubremsen.
    Diese Version war es in der Tat, die sich dann
durchsetzte. Durchsetzte gegen Tobiks Überzeugung, seine Frau sei mitnichten
lebensmüde gewesen, vielmehr hätte das Unglück vermieden werden können, wäre
der Fahrer nur ein wenig langsamer gewesen. Darauf bestand er. Und zwar mit
Recht. Doch die überraschend angeordnete Obduktion von Tobiks Frau brachte eine
Wahrheit zutage, die sehr viel mehr wog als eine
Geschwindigkeitsüberschreitung, die zudem von niemandem außer Tobik beobachtet
worden war und auf Grund einer gewissen Schlamperei bei der Vermessung des
Bremsweges auch von der Polizei nicht bestätigt werden konnte. Nein, was
zählte, war das schockierende Faktum, daß Johanna Tobik im Moment ihres
tödlichen Unfalls derart mit Medikamenten vollgepumpt gewesen war, daß im
Vergleich dazu die paar Gläser Wein, die sie am Nachmittag konsumiert hatte,
kaum ins Gewicht fielen.
    Dieser Umstand eines Zuviels an Arznei wäre bestens
geeignet gewesen, sich Johannas gewisse Unaufmerksamkeit beim Überqueren der
Straße zu erklären, die Unfähigkeit, den herbeibrausenden Wagen wahrzunehmen,
aber ... nun, genau das Gegenteil geschah: Man wollte unbedingt davon ausgehen,
daß sie diesen Wagen sehr wohl gesehen hatte und im einzigen "richtigen"
Moment auf die Straße gesprungen war, um überfahren zu werden. Die Tabletten,
sodann die Aussagen ihres Arztes bestätigten eine schwere Depression. Mit einem
Mal stand Hans Tobik im Mittelpunkt der Betrachtung, denn schließlich war er
der Mann gewesen, der den Zustand seiner Frau nicht erkannt, diesen Zustand
möglicherweise sogar verursacht hatte. Man hielt ihm vor, sich reinwaschen zu
wollen, indem er ein Fehlverhalten des Fahrers behauptete. Eines Fahrers, den
er attackiert, den er mehrmals vor Zeugen mit dem Tod bedroht hatte, selbst
noch, als er bereits im Gewahrsam der Polizei gewesen war. "Ich bring'
dieses Schwein um!" Immer wieder dieser eine Satz. Doch der auf diese
Weise Angegriffene zeigte sich rücksichtsvoll, erklärte, Tobiks Verzweiflung
zu verstehen, und unterließ es, die bezeugten Drohungen als solche ernst zu
nehmen und Anzeige zu erstatten. Von der Höhe seiner ungefährdeten Position
aus zelebrierte er Großzügigkeit und Mitgefühl.
    Am Ende blieb es dabei. Es wurde festgestellt, daß Johanna
Tobik erfolgreich einen Suizid herbeigeführt und der Fahrer in keiner Weise den
Unfall verschuldet hatte.
    Das alles traf Tobik in vielfacher Weise, weil er ja
tatsächlich die Krankheit seiner Frau nicht bemerkt hatte, ihre über die
gelegentliche Trinkerei weit hinausgehende Medikamentensucht, ihre Angstzustände,
ihre Erschöpfung, ihr Leiden am Leben, nicht einmal die körperlichen Symptome
dieses Leidens, die häufigen Entzündungen, den Reizdarm, das Stottern hin und
wieder, all die Dinge, die er, wenn sie ihm mal aufgefallen waren, unter
Frauenkrankheiten, unter klimakterischen Beschwerden verbucht hatte.
    Freilich änderte all das nichts an seiner Gewißheit, daß
Johanna sich nie und nimmer hatte umbringen wollen. Sie war an diesem Tag
geradezu vergnügt gewesen, zwar sediert, das stimmte schon, doch ganz sicher
war sie nicht vor das Auto gelaufen, um zu sterben. Diese Version war allein
manifestiert worden, um einen bedeutenden Wirtschaftstreibenden der Stadt zu
schützen. Bürger aus dieser Kategorie gehörten zu denen, die U-Bahnen
eröffneten, aber nicht mit ihnen fuhren, Gesetze verabschiedeten, sich aber
nicht an sie hielten. Hätten sie die Gesetze für ihresgleichen geschaffen,
hätten die ganz anders ausgesehen. Doch Gesetze waren sowieso nur für die
Blöden. Solche Leute hingegen waren Könige. Könige in modernen Zeiten. Zeiten
allerdings, in denen es selbst den Majestäten nicht gestattet war, so einfach
den nächstbesten Passanten über den Haufen zu fahren. Weshalb also der Passant
zum Täter gegen das eigene Leben stilisiert werden mußte. Behauptete Freitode
gehören zum

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