Steinfest, Heinrich
Ich mache Ihnen wenigstens
nichts vor. Wir unterbreiten Ihnen ein gutes Angebot. Oder wollen Sie wirklich,
daß wir die Frage behandeln, weshalb Sie auf einer Dienstfahrt Alkohol im Blut
hatten? Sie hätten sich das schon vorher überlegen müssen. Und um es klar zu
sagen, der junge Kollege, der während ihrer Rekonvaleszenz ihr Gebiet
übernommen hat, konnte großartige Ergebnisse erzielen. - Wir wissen doch
beide, mit achtundfünfzig ist es vorbei. Früher waren da die Leute längst tot."
"Die Freude hätte ich Ihnen wohl auch noch machen
sollen."
"Ganz im Gegenteil. Sie dürfen hundert werden, wenn
Sie mögen. Nur nicht dort, wo Sie im Weg stehen. Niemand sollte im Weg stehen.
Es gibt einen falschen Platz, um alt zu werden. Und einen richtigen. Finden Sie
den richtigen Platz, und seien Sie froh, damit früher anfangen zu dürfen als
andere."
Tobik hätte sich weiter wehren können. Hätte nachweisen können,
wie gut auch ein Hinkebein imstande war, in Süddeutschland herumzufahren und
medizintechnische Neuheiten vorzustellen. Aber wozu? Was nützte es, etwas zu
beweisen, was keiner bewiesen haben wollte? Ganz gleich, was er unternahm, er
würde letzten Endes den kürzeren ziehen. Selbst ohne Unfall wäre er demnächst
abserviert worden und an irgendeinem ungeliebten Schreibtisch gelandet. Zudem
hatte er in all den Jahren nicht schlecht verdient und war bestens abgesichert.
Wovor er sich vielmehr fürchtete, war einfach die viele freie Zeit, die da
aufzog, hatte ihm doch schon die wenige freie Zeit einen Horror verursacht. Er
würde sich etwas einfallen lassen müssen.
Vorerst aber dominierte ein Gefühl der Niederlage, des
Versagens. Der Verlust der Arbeit hatte im Grunde den Verlust der eigenen Frau
bestätigt. Etwas oder jemanden nicht halten, nicht wirklich an sich binden zu
können, auch wenn dem Verlust Unbeeinflußbares vorausgegangen war. - Wobei es
eine weitere Ironie darstellte, daß der Mann, der damals seine Frau
niedergefahren und getötet hatte, nachweislich keinen Tropfen Alkohol im Blut
gehabt hatte. Was nichts daran änderte, daß er mit überhöhter Geschwindigkeit
in einer Ladezone unterwegs gewesen war, ja, man könnte sagen, gerade die Nüchternheit,
mit der er dies getan hatte, hätte gegen ihn sprechen müssen. Tat es aber
nicht. Während er selbst, Tobik, eingedenk der drei Gläser Rotwein und des
schlechten Wetters sein Fahrtempo deutlich reduziert hatte. Doch es hatte halt
nichts genutzt. Im Stile des Spruchs: Was immer du machst, es ist immer das
Falsche.
Das Unglück stand ganz eng an seiner Seite und lächelte
ihn an. Davon abgesehen war da zunächst einmal nichts, auf das Tobik sein Bindungsbedürfnis
hätte übertragen können. Keine Kinder, keine Tiere, nicht einmal etwas, was die
Menschen Hobby nannten. Aber Tiere und Hobbys kann man sich selbstverständlich
zulegen, auch wenn sich das einfacher anhört, als es ist.
Erstaunlich viele Bekannte meinten: "Geh halt Golf
spielen." Das wurde langsam zum Synonym für eine Art Begrabensein bei
lebendigem Leib. Wofür er sich nun wirklich nicht begeistern konnte. Nicht mal
versuchsweise. Er hatte es mit dem Sport sowenig wie mit den Tieren. Am ehesten
... gut, er hatte sich in all diesen Jahren nicht nur als Reisender in Sachen
Medizintechnik, sondern auch als Forschungsreisender empfunden, als jemanden,
der die Menschen und das Land studiert hatte, ohne darum gleich zum
Landeskundler geworden zu sein. Würde er auch nicht mehr werden. Zudem hatte er
beschlossen, das Reisen im bisherigen Maßstab bleibenzulassen. Nein, er wollte
die kleine Welt, in die er eingedrungen war, noch ein wenig kleiner machen,
sie auf die Stadt reduzieren, in der er seit Jahrzehnten lebte: Stuttgart.
Er wurde zum Stuttgartforscher.
Aus dem Interesse für diese Stadt erwuchs zum ersten Mal
im Leben des Hans Tobik ein Gefühl der Liebe. Nicht bloß diese Herzchenliebe,
mit der auf T-Shirts eine Zuneigung bekundet wird, die vor allem dramatischen
Orten wie New York oder Berlin gilt, sondern jenes tiefe Empfinden für einen
Ort, dessen Magie man erkennt.
Tobik wurde klar, daß die Stadt einen lebenden Organismus
darstellte, in der Art eines Korallenriffs, eine Lebensgemeinschaft von Architektur,
Natur und Mensch. Die spezielle Topographie der Stadt, der glückliche Umstand
der vielen Hanglagen und damit die Möglichkeit, oben auf den Hügeln stehend das
Gefüge als Ganzes oder Zusammenhängendes betrachten zu können, führte dazu,
daß er Stuttgart als
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