Steinfest, Heinrich
wachsen, daß es sich verändern mußte. Daß man nicht alles
erhalten konnte, bloß weil es alt war. Daß jede Zeit dem Riff seinen Stempel
aufdrückte. Ein Riff zerstören war
allerdings etwas anderes. Das war zwar nicht weniger ein Stempel, aber ... aber
der Punkt war doch: Zuerst stirbt die Frau. Dann stirbt der Beruf. Und dann
soll auch noch der Bahnhof sterben.
Jeder braucht etwas, an dem er sich aufhängen kann. Warum
nicht ein Bahnhof? Um so mehr, wenn dieser als Kunstwerk gilt, ja ein solches
in der Tat ist, ein wesentlicher Beitrag zur Architekturgeschichte der Moderne
und zudem in Verbindung mit einer benachbarten Parkanlage jene erwähnte
riffartige Lebensgemeinschaft besonders schön zum Ausdruck bringt.
Wie viele andere in dieser Stadt, und zwischendurch sogar
die Deutsche Bahn, hatte Tobik nie geglaubt, daß man dieses Projekt einer
Bahnhofsvergrabung jemals in die Tat umsetzen würde. Viel zu lange lagen die
Entwürfe und Planungen zurück, zu sehr schien alles erdrückt vom Gewicht der
Milliarden, weil ja gerade der Wahnsinn in der Welt besonders teuer ist. Das
zeigt sich immer wieder. - Aber das kümmert den Wahnsinn nicht, er drängt sich
vor, er besitzt eine gewisse Attraktivität, was man gut am Krieg sehen kann.
Über wenig wird so gerne gesprochen. Das ganze zwanzigste Jahrhundert scheint,
abgesehen von dem bißchen kubistischer Malerei und dem bißchen Kafka und Freud
und einer nicht einmal hundertprozentig gesicherten Mondlandung, allein aus dem
Ersten und dem Zweiten Weltkrieg bestanden zu haben. Der Wahnsinn ist eine
Prinzessin, die so lange herumzickt und auf den Tisch schlägt, bis man ihr
sämtliche ihrer abstrusen Wünsche erfüllt. Es ist ihr Privileg, sich
durchzusetzen. Man betet sie sogar an, zumindest, wenn man ein Prinz ist oder
sich als solcher wähnt.
Nun war der Stuttgarter Tobik zwar kein Prinz, aber das
nützte ihm nichts, denn zum Prinzip der Prinzessin gehört es, selbst jene zu
dominieren, die nicht an ihre Schönheit glauben. Das gefällt ihr noch viel
besser, als sich um die dämlichen Prinzen zu kümmern. Die größte Lust ergibt
sich daraus, jemandem eine Torte aufzudrängen, die er überhaupt nicht essen
möchte.
Man hatte also entschieden, das Projekt eines neuen, in
jeder Hinsicht unterirdischen Bahnhofs durchzuziehen. Die Stuttgarter Bevölkerung
zu fragen, was sie davon hielt, daraufhatte man lieber verzichtet. Die
Umfragen standen inzwischen schlecht, die ganze Stimmung war mies. Man wollte
sich bei der Legitimierung des Projekts lieber auf die Mitglieder des Landtags
und des Gemeinderats und anderer Parlamente verlassen, die darin geübt waren,
noch so vergiftete Torten zu verdauen. Sie lebten vom Gift. Sie hatten eher
ein Problem, wenn in einer Torte die ungiftigen Anteile überwogen.
Bei Leuten wie Tobik war das freilich anders. Sein Magen
war konventionell. Was Tobik sehr bald dazu brachte, sich jenen Bürgern anzuschließen,
die gegen die Pläne einer schönen neuen Bahnhofswelt Sturm liefen. Im Grunde
war er kein Freund solcher Zusammenkünfte, solcher Verbrüderungen, er genoß es
in keiner Weise, dicht gedrängt mit anderen zu stehen und Parolen zu rufen. Bei
ihm war da kein Gefühl wohltuender, herzerwärmender Solidarität, sondern Tobik
sah allein die unbedingte Notwendigkeit eines öffentlichen Aufbegehrens, einer
öffentlichen Auseinandersetzung über die Kosten und die Folgen des Projekts. Er
wollte, daß jeder die Prinzessin hinter den politischen Phrasen der Politik
sah: das dünne, blasse, wütend aufstampfende Mädchen mit dem lächerlichen Krönchen
auf dem tausendfach frisierten Scheitel, dieses Königskind, das bereit war,
mit einer Riesenschere bewaffnet die Welt zu zerschnipseln.
Natürlich war Tobik nicht überrascht, daß die politisch
Verantwortlichen das Privileg der Prinzessin mit absolut jeder Methode durchzusetzen
gewillt waren und keine Scheu zeigten, sich der Schwindelei zu bedienen. - Die
Kunst des Schwindelns war eine allgemeine, praktiziert von jedermann, so wie
auch jedermann die Kunst des Schwindelns vom Verbrechen der Lüge strikt trennte.
Gutes Schwindeln galt ja nicht mal als Halblüge, sondern als kluge
Kommunikationsform, die Wahrheit hingegen als dumpf.
Die guten Schwindler verachteten die Lügner gleichermaßen
wie die, die sich etwas aus der Wahrheit machten, denen, wie es hieß, auch noch
der kreative Geist fehlte. Ein strenger Kritiker hätte jetzt den
Projektbetreibern vorwerfen können, beim Fälschen der
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