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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Löwen weinen
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überhaupt nicht zu Alicia, obwohl sein Gesicht einen
Rest von jugendlicher Hübschheit besaß, aber eben bloß einen Rest, ein Relikt,
und ganz sicher brauchte er für die hundert Meter doppelt so lange wie seine
Freundin. Er brauchte wahrscheinlich bei fast allem doppelt so lange wie diese
Frau. Welche sich im übrigen bei den Diskussionen gänzlich heraushielt und nur
in den Feedbackrunden, die den Übungen folgten, gezwungenermaßen kurze,
sachliche Kommentare von sich gab. Gesprächiger war Wolf, ihr Freund oder Mann
oder was er war. Sein Idiom wies ihn deutlich als Österreicher aus, Wiener
wahrscheinlich oder eingewienerter Niederösterreicher, aber das war gewiß für
keinen von hier zu unterscheiden. Er schien zu denen zu gehören, die erst vor
kurzem zu der Protestbewegung gestoßen waren, stellte viele Fragen und zeigte
keine Scheu, zu seiner Unsicherheit zu stehen. Tobik kam es vor, als versuche
dieser Wolf sich erst noch zu entscheiden, für wie sinnvoll er einen solchen
Protest hielt.
    Im Zuge des Trainings wurden nun zwei sogenannte
Bezugsgruppen gebildet aus Aktivisten, die von da an also ein wenig zusammengehörten
und später, wenn es ernst werden würde, als Gruppe auftreten sollten, die
mittels eines Sprechers in die Gesamtorganisation des Protestes eingebunden
war. Damit eben die künftigen Blockierer nicht einsam herumliefen und in erster
Linie sich selbst blockierten oder etwa den falschen Teil eines Geländes
beschützten, wie jene Bürger, die am falschen Sonntag eine Urne in ihrem
Wahllokal suchen, die da gar nicht steht.
    Der Zufall wollte es ... nein, das war kein Zufall. Tobik
sah zu, daß er in dieselbe Gruppe wie Wolf und Alicia kam. Das Kollektiv aus
neun Leuten mußte sich einen Namen geben, und nach einigem Hin und Her
poetischer Verirrungen und platter Hülsen (deren Plattheit freilich verglichen
mit den Slogans der Projektbetreiber wie ein hügeliges Gelände anmutete)
entschied man sich für den Vorschlag eines jungen, eher schüchternen Mannes,
dessen Lebensschicksal darin zu bestehen schien, ständig aufgefordert zu
werden, lauter zu sprechen. - Solche Leute werden natürlich unter dem Strich
ständig leiser, verstummen irgendwann, um endlich den demütigenden Aufforderungen
zu entgehen (dabei ist es doch so, daß die Welt nicht noch mehr lauter
sprechende Menschen benötigt, sondern mehr Hörgeräte).
    Jedenfalls hatte dieser Mann den Begriff Vergißmeinnicht
in die Runde geflüstert, und nachdem die Besserhörenden oder einfach auch nur
Zuhörenden dies laut wiederholt hatten, war man sich überraschend schnell
einig geworden. Man hieß von nun an Vergißmeinnicht, ein
schöner Name, wahrlich: das Friedfertige betonend, die Naturliebe, auch das
Ausdauernde, Widerstandsfähige, wenn man nämlich bedachte, daß das
Vergißmeinnicht zu den Mehrmalsblühern gehörte. Und dann lag obendrein in
diesem Namen das Versprechen, einander die Treue zu halten, sich nicht zu
vergessen - eine echte Tugend, so heilig wie schwierig.
    Nachmittags kam noch ein dritter Trainer, der aber leider
Gottes nicht zu einer Dreifaltigkeit der Ausbildergruppe beitrug. Er war sehr
viel weniger charmant und pädagogisch einfühlsam als seine beiden Kollegen, dafür
weitaus gebieterischer, obgleich er mit seinen Mitte Dreißig äußerst jugendlich
wirkte - allerdings vom Typ mäusehafter Banklehrling, der in der Freizeit gerne
Pfadfinder spielt, wovon nicht zuletzt das um seinen Kehlkopf geknüpfte rote
Halstuch zeugte. Seine adrett frisierte und brav bebrillte Bubenerscheinung
kontrastierte freilich ganz eigenartig sein selbstsicheres Auftreten. Er gab
bereits zu Beginn den revolutionären Marquis mit dieser Körperhaltung eines
jovialen Anführers: breitbeinig, die Hände am Rücken gleich einem Militär
verschränkt, dennoch schwerelos, als bestünde diese Haltung aus einer
Konstruktion vom Wind zusammengehaltener Blätter. Nicht Blätter der Bäume,
sondern Blätter der Aufklärung. Dank dieser Haltung wirkte der Mann, als sei
er einem Gemälde von Jacques-Louis David entstiegen.
    Nummer 3 ließ nicht unerwähnt, welche wichtigen Funktionen
er innerhalb der Bewegung erfülle, trat passend dazu so bestimmt wie bestimmend
auf und ermahnte postwendend jeden zur Konzentration, der sich die üblichen
kleinen, geflüsterten Nebengespräche leisten wollte. - Ganz klar, bei diesem
Trainer mußte es sich um einen ehemaligen Greenpeaceler handeln, so was
erkannte Tobik nach drei Sätzen, drei Sätze, die alle mit

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