Steinfest, Heinrich
dieser
Überlegenheit keine Degradierung des Gegners. Und als kurz nach Kingsley auch
Mach seinen Höhepunkt erreichte, da befanden sich seine verbliebenen Figuren
zwar in aussichtsloser Position, waren aber dennoch ungemein fröhlich.
Danach schliefen alle ein. Auch die beiden Damen. Das
Muster aus weißen und schwarzen Quadraten dehnte sich zur ewigen See.
Als Mach und Kingsley Stunden später erwachten, verspürten
sie eine kleine Peinlichkeit. Aber nicht so schlimm, um sich nicht gemeinsam
zur Kaffeemaschine zu begeben und das nötige Quantum flüssiger Nahrung
einzuverleiben.
Kingsley blickte hinüber zu dem kleinen Tisch. Dorthin, wo
der Anrufbeantworter blinkte. Sie ahnte, daß sich hinter diesem Blinken die
wütende Stimme Palatins verbarg.
Vergißmeinnicht
Herrliches Wetter. Sonntag früh. Kein Tag für die Kirche,
und das dachte einer, der gerne in Kirchen ging, ohne freilich auch nur einen
Zentimeter an den lieben Gott zu glauben.
Mit der Stadtbahn quer durch Stuttgart reisend, besuchte
Hans Tobik erneut jenen ominösen Ort Bad Cannstatt. Er steuerte den Park an,
der großflächig, dennoch übersichtlich den im Umbau befindlichen Kursaal ins
Grüne verlängerte. In diesem Grün sollte ein Training der Parkschützer
stattfinden. So nannte sich eine Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht
hatte, den Widerstand gegen das S-21-Projekt zu organisieren, die willigen
Bürger in ein effektives Protestverhalten einzuweisen, die Technik von
Sitzblockaden zu üben, den Spagat zwischen Gewaltlosigkeit und effizienter
Behinderung von Gebäudeabriß und Baumvernichtung zu bewerkstelligen, das
Gebaren gegenüber der Exekutive einzustudieren, psychologische Fragen zu
klären, juristische sowieso. Das alles war schon deshalb sinnvoll, weil viele
der engagierten Bürger diesbezüglich keine Erfahrungen besaßen und alles
andere als versierte Berufsdemonstranten waren. Auch Tobik nicht, versteht
sich.
Obwohl Tobik ja eigentlich längst den Entschluß gefaßt
hatte, einen ganz anderen, sehr einsamen Weg zu wählen: Verwirrung auszulösen
und Angst zurückzuerstatten, indem er eine Waffe zum Einsatz bringen wollte,
ein für seine Bedürfnisse justiertes Präzisionsgewehr. Es zu benutzen, richtig
zu benutzen, den Charakter dieser Waffe zu verstehen, darein hatte er in den
letzten Wochen seine ganze Zeit investiert. Eine Sache, die ihm durchaus
Freude bereitet hatte, wie es wohl immer Freude bereitet, sich zu überwinden
und mit Leidenschaft eine neue Fähigkeit zu erlernen. - Schießen war wie eine
Fremdsprache. Es genügte keineswegs, einfach die Vokabeln auswendig zu lernen,
sondern der Schütze war angehalten, sich das Wesen einer speziellen Syntax
einzuverleiben. Genau dies war Tobik gelungen, das Gewehr als einen "Satz"
zu begreifen, einen korrekt gebauten Satz, der einen Sinn ergab. Einen Satz
freilich, den man durch falsche Setzung und falsche Betonung der Zeichen - da
mochte die Schreibung der einzelnen Wörter noch so richtig sein - in etwas
Holpriges oder gar Sinnloses verwandeln konnte. Was im schlimmsten Fall
bedeutete, nicht nur einfach danebenzuschießen, sondern die falsche Person, das
falsche Objekt zu treffen. Aber einen solchen "unrichtigen Satz"
konnte Tobik mittlerweile ausschließen, solange er nicht gezwungen sein würde,
unter widrigen Wetterumständen oder in höchster Eile einen Schuß abzugeben. Und
genau das wollte er eben unterlassen und einzig und allein dann den Abzug
drücken, wenn er sicher sein konnte, daß die Syntax stimmte und der ganze Satz
eine funktionale Einheit ergab, eine Einheit, die von jedermann verstanden
werden konnte.
Neben der guten Luft und der Einsamkeit der Schwäbischen
Alb, auf der er seine Übungen und seine Zielrohrmeditationen absolviert und die
Grammatik einer AWC Kaliber .308 Win einstudiert hatte, war es zweifellos die
Willensanstrengung gewesen, die aus Tobik einen Scharfschützen gemacht hatte,
einen Mann, der ein Stück weit selbst Gewehr geworden war, so wie Thomas Bernhard
sagte, der Pianist Glenn Gould sei selbst Klavier gewesen. - Der Mensch wird
also zum Gerät, man darf ruhig sagen: Er wird wieder zur Maschine, er kehrt
zurück zu seinem ursprünglichen, seinem natürlichen Zustand.
Tobik war dennoch in den Cannstatter Kurpark gekommen,
weil er es für klug hielt, weiterhin das Bild des engagierten älteren Herrn abzugeben.
Dies würde sehr viel weniger auffallen, als wenn er sich mit einem Mal von der
Laufbahn des aktiven Bahnhofs-
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