Steinfest, Heinrich
die stete Steigerung der zu erwartenden Kosten
und Hindernisse in der Was-kostet-die-Welt-Manier monarchischer Trotzköpfe,
doch die Nervosität war deutlich zu spüren. Eine Panik umkreiste die Köpfe der
Stadtväter und Stadtmütter, die so vielen als Rabeneltern erschienen. Aber was
auch immer sie waren, sie entschlossen sich, zusammen mit Bahn und Polizei die
beginnende Sommerferienzeit nutzen zu wollen, um früher als avisiert das zu
schaffen, wovor sich die Bürger so fürchteten: Fakten. Man erklärte also,
Anfang August mit dem Abriß des Nordflügels zu beginnen, eine markante Wunde zu
schlagen, aufweiche dann die weiteren Verletzungen dominoartig folgen konnten.
Schwer zu sagen, ob eine solche Ankündigung demoralisieren sollte oder dem
Genuß sadistischer Praktiken diente.
Am letzten Montagabend, bevor diese Ferien begannen, war
der Platz, vor dem die wöchentlichen Protestveranstaltungen stattfanden, wieder
auffallend voll. Auch Tobik stand wie so oft unter den Demonstranten, als zu
Beginn der ersten Rede ein heftiger Schauer auf die Masse der Menschen und
Regenschirme niederging. Doch blieben entweder die Regenschirme (die
bekanntlich noch vor den Hunden zu den besten Freunden der Menschen zählen)
oder die Menschen selbst erstaunlich kompakt zusammenstehen, trotzten dem
Wetter und spendeten den obligaten Applaus. Es war somit nicht der Regenguß,
der eine Unruhe in die Menge brachte, sondern der Umstand, daß zur selben Zeit
einige Aktivisten über Leitern in den bereits leerstehenden seitlichen
Gebäudetrakt eindrangen. Aus den Fenstern wurden Transparente gerollt. Eine
Frau kam von hinten zum Podium, drängte sich auf die kleine Bühne, unterbrach
den Redner und brüllte in das Mikrophon, der Nordflügel sei besetzt und alle
Leute sollten sich sofort schützend vor die Hausfront stellen, um sich deutlich
mit den Besetzen! zu solidarisieren. Gleich darauf war sie wieder
verschwunden.
Man konnte nun erleben, inwieweit hier eine gewisse
Uneinigkeit innerhalb der führenden Köpfe des Widerstands herrschte. Die Kundgebung
wurde nämlich fortgeführt, die Reden, auch der Vortrag eines Mundartgedichts,
die üblichen Musikeinlagen, das gewohnte Prozedere, während die nahenden
Polizeisirenen dem Ereignis der Besetzung eine eigene musikalische Untermalung
verliehen. Erneut sprang jemand aufs Podium, um zur Unterstützung der Besetzer
aufzurufen. Für die, die einen Blick auf den Spiritus rector der Protestbewegung
hatten - und in der Tat war selten ein Geist treibender gewesen als dieser
weißhaarige Mann, der einem Grimmschen Märchen entstiegen schien -, war klar
zu erkennen, daß er selbst absolut überrascht war von der Aktion, man konnte
den Schmerz, das Unverständnis, die Erbitterung in seinem Gesicht sehen, die
Trauer des Kindes, das wir alle sind, wenn etwas geschieht, das uns
ausschließt. Nicht wenige Menschen warteten im Grunde nur darum das Ende der
offiziellen Veranstaltung ab, um diese ehrwürdige Person, der man so viel verdankte,
nicht zusätzlich zu kränken, die Kränkung einzudämmen, obgleich der Blick der
Leute ständig hinüber zur Fassade des Nordflügels wanderte.
Auch die Polizei - so konnte man meinen, wenn man ein
Träumer war - schien sich zurückzuhalten, bis der Akt des "mutigen alten
Mannes" beendet war. Ja, man hatte fast den Eindruck, als wolle die Einsatztruppe
nun, nach Ende der Kundgebung, gemeinsam mit den Demonstranten in das Innere
das Bahnhofs marschieren, um der Gebäudebesetzung einen angemessenen,
ornamentreichen Rahmen zu verleihen.
Es versteht sich freilich, daß die Polizei nicht gekommen
war, um auf ewig eine schmückende Einfassung, eine skulpturale Ergänzung
abzugeben, sondern um ihrerseits zum Bild, zum bewegten Gemälde, zum
kinetischen Objekt zu werden. Sprich, die Exekutive überdauerte die Zeit, die
es brauchte, bis sich der Großteil der Demonstranten dort hinbewegte, wo man
sie am liebsten auf ewig eingesperrt hätte, nämlich in ihre Wohnungen und ihre
Betten, und begann erst dann, kurz vor Mitternacht, in den Gebäudeteil
einzudringen und die Besetzer in der üblichen Form hinauszutragen. Im Grunde
lief dies ohne wirkliche Blessuren ab, schließlich hatte man es hier weder mit
besoffenen Fußballfans zu tun noch mit hartgesottenen Profis, auch wenn die
eine oder der andere sich dafür halten mochte. Die schlimmste Vorstellung für
die diensthabenden Polizisten war vermutlich die, mit jemandem konfrontiert zu
sein, der gleichfalls Polizist war,
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