Steinfest, Heinrich
unversperrte
Haus und begaben sich nach oben. Wie gehabt, öffnete der Sonnenbrillenmann,
auch so einer, der auf ewig persönlicher Referent bleiben würde. Diesmal machte
er keine Sperenzchen und führte die beiden augenblicklich zu Sami Aydin, der
ausnahmsweise nicht hinter seinem Schreibtisch saß, sondern durch die hohen
Scheiben auf die verheulte Rückseite des Mondes sah. Aus den Lautsprecherboxen
drang die grandios zerquetschte Stimme eines abgedrehten Finnen, der, begleitet
von Chor und Blasmusikkapelle, einen Text von Wittgenstein intonierte. Finnen
sind so.
"Ziemlich schräg, was Sie da hören", meinte
Rosenblüt.
"Was wollen Sie schon
wieder?" zeigte Aydin sich unglücklich und klatschte in die Hände. Die
Musik stoppte.
Rosenblüt erklärte, es würde diesmal nicht um die Löwen gehen.
"Was für Löwen?" fragte der Waffenhändler.
"Ich weiß schon, daß Sie Angst haben. Das war
schließlich der Grund, daß Sie mir zuerst statt des Löwenrätsels einen Mann
anbieten wollten, von dem Sie meinten, der würde demnächst in dieser Stadt den
Scharfschützen geben."
"Soweit ich mich erinnern kann, Herr Kommissar, hat
Sie das nicht im geringsten interessiert."
"Manche Dinge ändern sich."
"Mag sein. Aber ich denke, ich habe meine Strafe
abgegolten. Das war riskant genug. Ich tue keinen Schritt mehr aus dem Haus."
"Ach, und vorher waren Sie also leidenschaftlicher
Spaziergänger? Hören Sie auf mit dem Unsinn, Aydin! Ich sagte Ihnen schon
einmal, Sie werden jung sterben, gleich, was Sie sagen oder nicht sagen,
gleich, wie oft oder selten Sie vor die Türe gehen. Machen Sie sich nichts vor,
und reden Sie mit mir, wenn ich schon so freundlich darum bitte."
"Freundlich? Nennen Sie das freundlich?"
Rosenblüt gab gestisch zu verstehen, daß es kaum noch
freundlicher ging. Es war aber Teska Landau, die das passende Gesicht dazu
machte. Ja, man konnte sagen, ihr Gesicht erinnerte an ein Meer von Rosenblüten
- sehr viel mehr als der Mann, der diesen Namen trug.
Aydin sah wieder in den Regen hinaus. Eine unsichtbare
Hand lag auf seiner Schulter, nur die Hand, schwer, mächtig, aber ohne Druck.
In der Tat wußte er, daß er nicht alt werden würde. Er spürte den Tod, er roch
ihn, seit er im Bewußtsein des Spürens und des Riechens lebte. Doch was heißt
denn das: jung sterben? Er wartete schon viel zu lange auf diesen frühen Tod,
so lange, daß ihm die Idee gekommen war, spür- und riechbare Nähe des Todes
müsse nicht den Tod an sich bedeuten, sondern... ja, was? Daß die Erdnußbutter
demnächst schlecht wird? - Aydin gab sich geschlagen: "Lundquist. Erinnern
Sie sich nicht mehr? Das sagte ich Ihnen ja schon: Der Kerl hat sich Lundquist
genannt, war aber sicher kein Schwede oder so, nein, jemand von hier,
vielleicht aus Stuttgart, vielleicht aus dem Umland."
"Wie alt?"
"Um die Sechzig. Kein Sportler, kein Lebemann, der
graue Typ, der Typ, der mal im Altersheim sitzen wird und den dann keiner
besuchen kommt."
"Na, seine Frau vielleicht", meinte Teska
Landau, die zwar ohne Beziehung war, aber das Wort Treue kannte.
Aydin zuckte mit den Schultern. Er erklärte, dem Mann
namens Lundquist eine AWC verkauft zu haben, eine englische Waffe, er verkaufe
nur Westwaffen.
"Und die Munition?" fragte Rosenblüt.
"Da mache ich eine Ausnahme."
"Darf ich raten?"
"Bitte."
"Die Hand Gottes."
"Meinen Sie diesen kleinen, dicken, zugekoksten
Fußballer aus Argentinien?" grinste Aydin.
"Nein, ich meine ein Slawisches Kreuz", blieb
Rosenblüt unbeirrt.
Doch Aydin belehrte ihn: "Da müssen Sie aber auch so
korrekt sein, nicht Hand, sondern Hände zu sagen."
"Okay, Sie haben recht. Jedenfalls haben wir dieses
Kreuz auf dem Geschoßmantel eines Projektils gefunden."
"Das heißt also, Lundquist hat bereits zugeschlagen."
"Zumindest, wenn wir davon ausgehen, daß nicht viele
Leute in dieser Stadt solche Patronen verwenden."
"Mein Wort darauf, daß das Lundquist war", sagte
Aydin, zeigte sich aber erstaunt, von keinem Anschlag in den Nachrichten gehört
zu haben.
"Der Schaden war gering", klärte Rosenblüt auf, "es
sollte wohl eine Warnung sein. Die Kugel traf nicht einen Mann, sondern ein
Foto. Beziehungsweise den Mann auf dem Foto."
"Dann war es keine Warnung, sondern eine Ankündigung.
Wer soll denn das Opfer sein?"
"Das müssen Sie nicht wissen."
"Ich kann mir sowieso denken, daß es um den Bahnhof
geht. Alles in dieser Stadt dreht sich um diesen Kopf, der unter die Erde soll.
Alles und jeder ist damit
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