Steirerblut
Traumdeuterei jedoch weniger mystische als tiefenpsychologische Bedeutung. Wäre sie nicht Polizistin geworden, hätte sie Psychologie studiert. Wahrscheinlich wäre sie dann erst recht bei der Polizei gelandet und würde heute als Profilerin arbeiten. Schon sehr früh hatte sich Sandra für die menschliche Psyche und deren Abgründe interessiert und bisher alle sich ihr bietenden polizeipsychologischen Fortbildungsmöglichkeiten wahrgenommen. Dass sich unter der Oberfläche des Bewusstseins oft Hinweise des Unterbewusstseins versteckten, wusste Sandra auch aus eigener Erfahrung. Dabei waren nicht alle Botschaften so direkt und offensichtlich, wie jene aus ihrer Kindheit, als sie geträumt hatte, dass ihr Hamster gestorben sei. Am nächsten Morgen teilte ihr die Mutter mit, was Sandra längst wusste: Der Hamster hatte in der Nacht tatsächlich das Zeitliche gesegnet. Ähnliche Phänomene hatte sie auch später immer wieder erlebt, wenngleich die Hinweise meistens verschlüsselt und die Zusammenhänge wesentlich komplexer waren als damals.
Sandra nahm nicht an, dass ihre Mutter tot war, nur weil sie das vorhin geträumt hatte. Viel eher vermutete sie, dass ihr Unterbewusstsein sie davon abhalten wollte, der Mutter – im übertragenen Sinn – die Hand zu reichen.
Bergmann war in ihrem Traum aufgetaucht, weil sie seit ein paar Wochen die meiste Zeit mit ihm verbrachte. Und dass er sie nackt durch den Wald gejagt hatte, war lediglich eine Projektion des Falles, an dem sie gerade so intensiv arbeiteten, versuchte sie ihren Traum zu analysieren.
Irgendwann wandte sie sich dem Fernseher zu und wunderte sich, wie viele Blockbuster zu dieser frühen Morgenstunde liefen. Wenngleich deren Kinopremieren doch schon einige Jahre zurücklagen. Auf dem einen Kanal therapierte Robin Williams den jungen Matt Damon alias ›Will Hunting‹, auf dem anderen ließ sich die alternde Cher ihre grauen Haare färben, um wenig später, herausgeputzt wie ein Filmstar, Nicolas Cage in der New Yorker ›Metropolitan Opera‹ zu treffen. Sandra hatte ›Mondsüchtig‹ schon einige Male gesehen, blieb jedoch erneut bei dieser romantischen Komödie hängen. Irgendwann musste sie auf dem Sofa eingeschlafen sein, denn als sie das nächste Mal auf ihr Handy blickte, war es sieben Uhr fünfzehn. Ihr Nacken war verspannt. Und draußen regnete es. Für dieses Jahr hatte sich der Altweibersommer wohl endgültig verabschiedet. Sandra streckte sich und gähnte. Auf einmal fiel ihr das SOKO-Meeting ein, zu dem sie pünktlich um acht Uhr erscheinen musste. Eilig sprang sie auf und ging ins Badezimmer. Haare waschen konnte sie getrost vergessen, wenn sie nicht zu spät kommen wollte. Wann würde sie endlich lernen, sich bereits am Abend auf den nächsten Tag vorzubereiten und morgens zeitgerecht aufzustehen, wie ihr das die Mutter schon zu Schulzeiten vergeblich einzubläuen versucht hatte? Wahrscheinlich nie, gab sie sich selbst die Antwort und stieg in die Duschkabine. Das warme Wasser, das auf ihren Körper niederprasselte, fühlte sich angenehm an. Max fiel ihr ein. Ob sie ihn anrufen sollte? Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sich bei ihr melden würde, auch wenn sie ihn ausdrücklich gebeten hatte, dies nicht zu tun. Eine Wiederholung der letzten gemeinsamen Nacht durfte nicht stattfinden. Sie musste auch diesen Teil der Vergangenheit endlich loslassen. Schade nur um den fantastischen Sex, auf den sie damit ebenfalls verzichtete. Sandra spülte die Seife vom Körper und betäubte das Kribbeln in ihrem Unterleib mit einem kalten Wasserguss aus der Brause. Im Augenblick war keine Zeit dafür, ihre Lust zu befriedigen. Ihre Haare band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen, zog die schwarze Hose und – passend zum trüben Wetter – einen grauen Pulli an. Dann schlüpfte sie in die Lederjacke, die sie zu dieser Jahreszeit beinahe täglich trug, und lief, da der Aufzug besetzt war, hinunter in die Garage.
Sandra schaffte es ausnahmsweise, noch vor Bergmann im großen Konferenzraum des Landeskriminalamts einzutreffen. Wie schon am Vortag moderierte Novotny das SOKO-Meeting, diesmal jedoch über ein Livestream-Video aus dem Bundeskriminalamt in Wien.
Nachdem Jungwirth vom Einsatz im Grazer Büro der Kovacs GmbH berichtet hatte, fügte Bergmann die Aussagen des Geschäftsführers zur Befragung im Mordfall hinzu, die den Ehemann des Opfers nicht gerade entlasteten. »Habt ihr Paul Kovacs’ Alibi noch einmal überprüfen können?«, wandte er
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