Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Herren der Konzentrationslager haben dafür gesorgt, dass es möglichst keine Solidarität unter den Gefangenen gibt, eher einen Kampf aller gegen alle. Die abscheulichen Bedingungen der Unterbringung, der Versorgung, der Quälerei durch Arbeit oder direkte Misshandlung, die ständige Todesgefahr, die Allgegenwart des Siechtums und des Sterbens schufen Bedingungen, unter denen man nichts und niemanden mit »normalen« Maßstäben beurteilen kann. Hilfe ist die Ausnahme und oft nur die Suche nach dem eigenen Vorteil. Nur wenige knüpfen diskrete Netze des Widerstands, die oft genug durch Verrat auffliegen.
Und manche stillen Helfer sehen nicht so aus, als sei von ihnen Gutes zu erwarten, vor allem, wenn sie als »Funktionshäftlinge« eingesetzt sind, als »Kapos«, als Barackenälteste, wie etwa der Kapo Arthur Dietzsch, ein finster wirkender Geselle, der in Buchenwald für den SS-Arzt Ding-Schuler arbeitet, der im Typhusblock Impfversuche an lebenden Menschen macht. Für die anderen Häftlinge ist Dietzsch Teil des Schreckensregiments, das im Block 46 herrscht.
Hier hat jeder seine eigene Geschichte, sein erzählbares Schicksal. Auch hier könnte man, wie Dostojewski,
Aufzeichnungen aus einem Totenhaus
verfassen. Aber hilft die Geschichte, diese Menschen zu verstehen? Am Ende gewinnt der Tod. Da kann man ein sensibler Professor der Philosophie sein, großartige Bücher geschrieben haben und ein vorbildlicher Lehrer gewesen sein wie Maurice Halbwachs aus Paris. Hier geht er elend zugrunde, kaum getröstet von seinem ehemaligen Studenten Jorge Semprún. Von Halbwachs aber bleibt eine Theorie des kollektiven Gedächtnisses …
Auch Mörder haben Geschichten. Erwin Ding-Schuler aus Bitterfeld etwa, der Arzt mit den rundlichen Wangen, dem Hundeblick, der hohen Stirn, dessen Kopf in der schwarzen SS-Uniform seltsam schlaff wirkt. Kein bisschen Schneid. Er heißt weder Ding noch Schuler. Er ist ein Bastard, der sich beweisen, sich legitimieren und Anerkennung finden will. Sein biologischer Vater, der Tropenmediziner Carl Freiherr von Schuler, hatte diesen unehelichen Sohn nie anerkannt, der schließlich von einem Heinrich Ding adoptiert wurde. Seinen Doppelnamen gab er sich selbst, nach beiden falschen Vätern. Die Mutter, eine Frau Braun, war Praxisgehilfin beim Freiherrn von Schuler im sächsischen Grimma gewesen, bekam zwei weitere Kinder von ihrem adligen Chef, der aber eine nicht standesgemäße Ehe ablehnte. Bald nach dem Medizinstudium wurde Erwin Ding-Schuler Lagerarzt in Buchenwald. Bei Kriegsbeginn in die SS aufgenommen, schmeichelte er sich bei Himmler persönlich ein, der ihm die Führung des Doppelnamens Ding-Schuler erlaubte. Er war vorübergehend in Graz und in Berlin tätig, ehe er im Dezember 1941 wieder in Buchenwald amtierte: Er suchte nach Abwehrmitteln gegen Fleckfieber. Seine Experimente vollzog er vor allem an russischen und polnischen Kriegsgefangenen.
Ab 1943 hatte Ding-Schuler einen langjährigen Häftlingals Schreiber angestellt, Eugen Kogon, einen engagierten Katholiken, der 1938 in Wien verhaftet worden war. Dass dieser in Kontakt mit dem lagerinternen Widerstand war, wusste der Arzt nicht, muss es aber bald geahnt haben. Kogon erlebte ihn als launischen Menschen, der zuweilen mit sich reden ließ. Ding-Schuler wechselte auf unberechenbare Weise zwischen feinen Manieren und Brutalität. Er hatte so viele Leben auf dem Gewissen und war doch von Fall zu Fall bereit, einzelne Häftlinge zu verschonen. Hilfe war ohnehin nicht im großen Maßstab möglich, sollte sie nicht auffallen, sondern immer nur für Einzelne. Der Arzt hatte schon begriffen, dass ihm in der SS keine weitere Karriere vorbehalten war, und suchte nach einer Rückversicherung; in der Baracke hatte er ein Radiogerät installiert, mit dem er »Feindsender« abhörte, er wusste bald nach Stalingrad, dass die Alliierten den Krieg gewinnen würden. Vorerst führte er seine »Forschungen« weiter, ließ Kogon die Resultate festhalten und publizierte Aufsätze in Fachzeitschriften (die vermutlich Kogon redigiert hatte).
Kann man einem wie Ding-Schuler trauen? Und wie will man Taten und Untaten gegeneinander aufrechnen? Vor welcher Instanz? Manche Häftlinge hatten keine Chance, wie Ernst Thälmann, der nur nach Buchenwald verlegt wurde, um dort gleich nach dem Eintreffen erschossen und verbrannt zu werden. In der Typhusbaracke gab es immerhin eine kleine Chance zum Überleben. Denn im Block 46 gab es den Kapo Arthur Dietzsch, den
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