Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
entdeckte er nicht nur seinen eigenen Namen, sondern auch die Namen von Kogon und Dietzsch. Bevor Ding-Schuler floh, ging er das Risiko ein, ins Lager zurückzukehren und beide zu warnen. Kogon wurde aus dem Lager geschmuggelt, und Dietzsch hockte drei Tage lang in einem bedeckten Erdloch, bis das Lager befreit war.
Als er im Nürnberger Ärzteprozess als Zeuge aussagen sollte, wurde er von anderen Zeugen schwer belastet, die in ihm nur den brutalen Kapo und Mordgehilfen von Ding-Schuler sahen. Und so wurde er schon wieder inhaftiert, 1947 vor Gericht gestellt und zu 15 Jahren Haft verurteilt, obwohl es Aussagen zu seinen Gunsten gab: Er habe mindestens drei Häftlinge gerettet, habe in seiner Baracke die Häftlinge gut versorgt und gepflegt, soweit es ihm möglich war. Dietzsch blieb drei Jahre lang ein Gefangener der Amerikaner, gemeinsam mit Nazigrößen und Kriegsverbrechern.
Anfang 1950 wurde seine Strafe plötzlich auf null Jahre reduziert, also stillschweigend aufgehoben, und er kam frei. Man hatte eingesehen, dass ein Fehlurteil vorlag, wollte es aber nicht zugeben, zahlte ihm keinen Pfennig Entschädigung. Noch 24 Jahre lebte Dietzsch als freier Mann. Aber immer wieder hat er seine Ehre verteidigen müssen, auch als Alfred Balachowsky in einem Buch behauptete, Dietzsch habe eigenhändig Tausende Menschen ermordet. Daraufhin schrieb Dietzsch an Stéphane Hessel und an Yeo-Thomas, die ihn ihrer Sympathie versicherten und sich von Balachowskys Aussagen distanzierten. »Ich kann nur wiederholen, dass ich sehr stolz bin, Dich als Freund zu haben«, schrieb ihm der einstige Ken Dodkin.
Ding-Schuler wurde am 25. April 1945 von den Amerikanern verhaftet, er hatte sich in Weimar als Wehrmachtsarzt versteckt, aber eine Krankenschwester erkannte ihn und meldete ihn den Amerikanern. In Gefangenschaft halfer den Alliierten, SS-Leute zu identifizieren, was ihm den Hass der alten Kameraden eintrug. Aber er sah ein, dass er einem Urteil nicht entgehen würde. Er unternahm mehrere Selbstmordversuche, schnitt sich zuletzt die Pulsadern auf und legte den Kopf in eine Schlinge. So entzog er sich der Justiz. Wie hätte man über einen Mörder richten sollen, der zugleich ein Lebensretter war?
Urkunde des Standesamtes Weimar von 1944, das den »Tod« von Stéphane Hessel beglaubigt: an seinem Geburtstag, dem 20. Oktober 1944
Der Diplomat
Jeden einzelnen Tag zu überleben war im Lager Projekt genug. Jeder Tag, der einem blieb, war ein Sieg. Die Erfahrung des radikal Bösen, die Nacht der Unmenschlichkeit, das erlebte Dunkel, das nicht weichen will und immer wieder das Gemüt überschattet, ist seither ein Teil von StéphaneHessel. Aber auch nachträglich gilt es, sich nicht unterkriegen zu lassen, aktiv zu bleiben, nicht zu lange die Schwärze anzuschauen, die einen noch aus großem zeitlichen Abstand zu verschlingen droht. Traurige Beispiele dafür gibt es genug. Es ist wie ein Krebs der Seele, den man fernhalten muss, jeden Tag aufs Neue – durch Tätigkeit, durch Hoffnung, durch Kontakt mit der Jugend. Das ist das Rezept von Stéphane Hessel.
Diese Erfahrung ist ein tiefer Einschnitt im Leben. Jorge Semprún nennt es nicht Überleben, sondern: den Tod durchschreiten. Zurückgekehrt aus der Unterwelt – wie Orpheus, ohne die Liebe zur Poesie zu verlieren. Zweimal siegreich den Höllenfluss überquert, wie es in Nervals klassischem Gedicht
El Desdichado
heißt. Es ist eine ganz besondere Erfahrung. Diese Vergangenheit ist nicht einfach eine Episode neben anderen, an die man sich später mehr oder weniger genau erinnert, sie ist wie eine Last, die man immer mit sich herumschleppt.
Man denkt: Widerstand, Lager, Überleben, und assoziiert Heldentum, Stärke, Mut. Aber die Zeit im Lager ist eine tagtägliche Demütigung durch die Schikanen, die Misshandlung, die ständige Bedrohung und auch durch die Erniedrigungen des eigenen Körpers, Schmutz, Krankheit, Ekel. Es bleibt eine unsichtbare Wunde, ein Stigma.
In dieser Finsternis gewesen zu sein und alles überstanden zu haben ist aber auch so etwas wie ein heimlicher Adelstitel. Die Kameraden bilden eine geheime Bruderschaft. Aber wie können sie davon erzählen? Wer will es hören? Es glauben? Und was folgt daraus für die anderen? Wird man sich gar dafür entschuldigen müssen, ein solches Gepäck mit sich zu schleppen, den anderen einen Teil der Last zuzumuten? Man muss es den anderen leicht machen. Diese Vergangenheit darf nicht bloß erlitten sein, sie muss aktiv
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