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Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell

Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell

Titel: Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Fluegge
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es durchhalten. Am Ende dieser Zeit steht die Todesschwelle: Das Ende zu überstehen ist das wahre Problem. Die deutsche Mordwut schlägt noch einmal unbarmherzigzu. Und die Zivilisten helfen dabei mit. Es haben nicht nur die Uniformierten gemordet. In diesen Spiegel müssen wir blicken.
    Fünf Franzosen finden sich zusammen, tauschen Informationen aus über den Vormarsch der Alliierten. Die Hoffnung ist jetzt keine Fiktion mehr, keine Lebenslüge. Und doch phantasieren sie viel, erzählen sich Rezepte, malen sich das erste Essen nach der Befreiung aus. Einer träumt von Nudelbergen mit viel Konfitüre. Nachts schlafen sie zu viert in einem hölzernen Gestell, mit einem löchrigen Laken als Windschutz, als Kissen dient für jeden nur der kärgliche Rest des persönlichen Besitztums: ein Paar Schuhe, eine Hose, ein kaputter Pullover und vielleicht ein oder zwei halbgefrorene Kartoffeln, die man selbst vor den besten Freunden versteckt. Nachts findet man nur wenig Schlaf. Wer sich durch Bewegungen oder Stöhnen gestört fühlt, teilt Schläge aus.
    Selbst wenn sie nicht im Tunnel arbeiten, wissen sie doch, welches Schreckensregiment hier herrscht, geplant und gewollt vom Herrn der Raketen, Wernher von Braun, und vom Rüstungsminister Albert Speer. Nachdem alliierte Luftangriffe das Werk in Peenemünde bombardiert haben, ist die Produktion hierher ins deutsche Kernland verlegt worden. Mit einem Blutzoll ohnegleichen wird die unterirdische Fabrik von Häftlingen binnen kürzester Zeit errichtet. Jede tatsächliche oder vermeintliche Sabotage bei der Arbeit wird mit der sofortigen Hinrichtung bestraft. Die Schreckensszenerie erfährt eine zynische Untermalung durch ein Zwangsorchester, das die Ouvertüre von Jacques Offenbachs Operette
Orpheus in der Unterwelt
spielen muss. Wie viele Gefangene hatten den Mut, zu witzeln, dass jüdische Komponisten doch im Dritten Reich verboten waren? Wahrscheinlich machte niemand Witze, und niemand konnte diese Musik später arglos anhören. Grauen, tödliche Effizienz, makabrer Zynismus, ungeniertes Morden, das istdie wahre Musik des Deutschen Reiches in diesem Krieg. Die Raketen aber sollten London treffen.
    Das ganze Ausmaß des Schreckens wird Stéphane auf seine Weise erleben. Im Osten werden die Lager geräumt. In vollgestopften Zügen oder auf mörderischen Märschen werden Gefangene und Deportierte in andere Lager verlegt, unter anderem nach Dora. Auch das kostet viele Menschenleben. Die Leichen müssen aus den Zügen geholt werden, sie stapeln sich vor dem elektrifizierten Stacheldraht von Dora, das Krematorium ist überlastet.
    Die Kleidung der Toten soll bewahrt werden. Das Effizienz- und Nutzdenken der Machthaber hört nicht auf. Man sucht Freiwillige für das Entkleiden der Leichen. Als Lohn winken zwei Scheiben Wurst extra und etwas Brot dazu. Stéphane und ein französischer Kamerad melden sich. Eine ganze Nacht lang haben sie Tote und Halbtote entkleidet, bevor diese verbrannt wurden. Die mit Blut und Exkrementen verschmierten Kleider mussten von den kalten Körpern gezogen werden.
    »Wenn man das mit 21 Jahren gemacht hat«, sagt Stéphanes Leidensgenosse, »dann lohnt es sich nicht, weiterzuleben.«
    »Nein«, sagt Stéphane, »auch diese Erfahrung kann man in sein Leben einbauen, als ein Symbol für das Fürchterlich-Äußerliche, so fürchterlich können Menschen werden. Aber man muss sein Leben aufrechterhalten, auch darüber hinweg, man muss das Leben wünschen.«
    Die Korruption hat allerlei Annehmlichkeiten ins Lager gebracht, Zigaretten, Lebensmittel, Kleidung, Stiefel; geschlagen wird im Frühjahr 1945 seltener, und vor allem ist der Arbeitsrhythmus langsamer geworden. Von Interesse sind nur noch die Paketsendungen. Einigen Häftlingen ist es gestattet, Pakete zu empfangen. Die Sendungen enthalten Dinge, die die SS-Leute gebrauchen können. Sie entwickeln ein ganz eigenes Verteilungssystem. Die Pakete haben einegewisse Schutzwirkung für die Häftlinge. Doch seit Februar sind aus Frankreich keine Pakete im Lager Dora eingetroffen. Das Leben der Franzosen ist nicht mehr viel wert.
    Im März häufen sich die Luftangriffe auf das nahe gelegene Nordhausen. Unter den Häftlingen kursieren üble Gerüchte über das Ende und darüber, wie sie alle getötet werden sollen. Im April scheint zuweilen die Sonne, die Arbeitseinsätze hören fast auf. Stéphane und seine Freunde Armand und Charles nutzen die unverhoffte Freizeit und gehen zum Block 124 hinüber, der in der

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