Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
angeeignet, anverwandelt, erobert werden. Aber was ist schwerer zu erobern als die Vergangenheit, die nurSchmerz ist und Schatten. Und deshalb umarmen sich die Überlebenden, wenn sie einander begegnen, und verständigen sich schweigend, als wäre jedes Wort zu viel, zu schwer. Man musste sich verhärten, um zu überleben. Und danach?
Liberté, feuille de mai
, dichtete Paul Éluard. Freiheit, Maienzweig. Mai 1945: Stéphane ist frei, er ist jung, er hat noch nicht recht angefangen zu leben, aber er trägt schon das Schwergewicht einer doppelten Vergangenheit, der eigenen und der seiner Eltern.
Kein Jahr nach seiner Befreiung wurde Stéphane Hessel als französischer Diplomat bei der UNO nach New York entsandt. Rascher konnte man nicht neu beginnen – in der Neuen Welt, arbeitend für eine andere, wirklich neue Welt. Über 40 Jahre war er in der Folge als Diplomat tätig, in einem zutiefst internationalen Umfeld, engagierte sich über das normale Maß hinaus auf den Feldern der Menschenrechte, der Entwicklung, der Entkolonialisierung, der Bildung, der sozialen Gerechtigkeit. Und er agierte weltweit, hatte immer wieder mit der »Dritten Welt« zu tun, in Asien, aber besonders in Afrika. Das Reisen wurde die spezielle Lebensform und zugleich ein wesentliches Lebenselixier von Stéphane Hessel. Er war pausenlos unterwegs, wie manche Vogelarten wesentliche Teile ihres Lebens in der Luft verbringen und nur für bestimmte Aufgaben auf die Erde zurücksinken.
Die Diplomatie machte ihn zum Weltbürger und vor allem zum Weltreisenden. Der so lange Eingesperrte musste ausfliegen, verlor aber darüber nicht die Bodenhaftung. Er bekam nur eine andere Perspektive auf die Dinge. In diesem Sinne war der Kosmopolitismus der Konzentrationslager auch eine praktische Vorbereitung und nicht nur eine innere Motivation. Der Diplomatie galt sein halbes Leben – und doch kann seine lange offizielle Laufbahn von heute her fast als Nebensache erscheinen, als langes Zwischenspielzwischen der mythologischen Kindheit und den heroischen Kriegsjahren einerseits und seiner Rolle als »Empörer« andererseits.
Er tauchte nicht zu tief in den Apparat ein, behielt seine Freiheit. Auch seine Laufbahn als Diplomat war untypisch, wenn er von über 40 Dienstjahren fast 25 Jahre in Paris verbracht hat – aber dennoch immerzu unterwegs war. Insgesamt war er sieben Jahre in New York, sieben Monate in der Regierung Mendès-France, zwei Jahre in Vietnam, fünf Jahre in Algerien, fünf Jahre in Genf – und ansonsten in Paris.
Weit über die Pensionierung hinaus hat er Funktionen wahrgenommen, zuletzt in den Medien. Und auch offiziös nahm er Missionen wahr. Erst seit 1987 wuchs er in die Rolle des Zeitzeugen und Akteurs hinein, stärker dann im Laufe der 1990er Jahre. Und schließlich schrieb er auch, was der in die Literatur Hineingeborene so lange vermieden hatte. Erst in dieser Phase, die mehr war als ein Nachspiel, kam seine eigentliche Persönlichkeit zur Geltung. Vor dem Krieg, im Krieg, in der Arbeit als Diplomat hatte er sich nicht ganz zeigen können, zudem hat seine diplomatische Laufbahn nicht die Erfolge gezeitigt, die er erhofft hatte und erwarten durfte, die seiner Persönlichkeit angemessen gewesen wären. Vielleicht wartete er auf eine Chance zur Revanche. Und sie kam, sehr spät, sehr überraschend, und doch folgerichtig.
In Paris traf er bald nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft Jean Sauvagnargues, der wie er Offiziersanwärter in Saint-Maixent gewesen war. Nun arbeitete Sauvagnargues im Kabinett von Charles de Gaulle, der der ersten Nachkriegsregierung vorstand. Viele Jahre später bekleidete er Botschafterposten in Bonn und in London und brachte es sogar zum Außenminister. Für den diplomatischen Dienst suchte man 1945 junge Leute, die nicht durch Vichy-Kontaktekompromittiert waren, zudem gab es für aktive Kriegsteilnehmer eine Sonderprüfung. Stéphane – so jung und schon Veteran! – war sehr interessiert und bereitete sich intensiv auf die Prüfung vor, die er am 15. Oktober 1945 bestand, ein Jahr nach seinem »Tod« in Buchenwald.
Zur Prüfung gehörte die Abfassung einer schriftlichen Arbeit. Da er ein wenig Philosophie gehört hatte, wählte Stéphane das Thema »Der Begriff des Leidens bei Kierkegaard«. Seine eigene Leidenserfahrung wurde darin nie direkt angesprochen. Sein Prüfer, der Philosoph René Le Senne, ging nachsichtig mit dem Kandidaten um, die mündlichen und schriftlichen Prüfungen
Weitere Kostenlose Bücher