Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Nähe einer Hügelspitze liegt, von Gebüsch umgeben und somit außer Sichtweite – ein Ort, der von weitem aussieht wie eine Holzfällerhütte in einer friedvollen Landschaft. Von dort oben kann man das ganze Nordhäuser Tal überblicken. Sie sitzen in der Sonne und können das Geräusch der Flugzeuge und die dumpfen Schläge der Flugabwehrkanonen hören. In der Ferne sieht man dunklen Rauch in den blauen Himmel aufsteigen. Dann und wann heult eine Sirene.
Das Brummen wird lauter und lauter, man kann den Einschlag von Bomben sehen und hören. Der Luftangriff ist jetzt genau über Nordhausen, von überall her dringen ein Pfeifen und Schreien und Brüllen und Heulen, dann sieht man überall Feuer ausbrechen. Diese Sonne, dieser Himmel und dieses grüne Tal! Zehn Meilen entfernt schlagen Flammen auf aus der Stadt wie in einer romantischen Inszenierung. Die Sonne und der Hügel, die sonderbare Muße, das ungewisse Schicksal und das noch ungewissere Überleben, alles erzeugt Bilder und Gefühle der Hoffnung. Können wir uns die große Genugtuung der fünf Franzosen vorstellen?
Am 5. April gibt es keinen Morgenappell. Um sechs Uhr früh verkündet der Lautsprecher, dass keine Arbeitskommandos das Lager verlassen sollen, stattdessen werde ein allgemeiner Appell kurz vor Mittag erfolgen. Dann heißtes: Das Lager wird geräumt. Die Gefangenen werden aufgefordert, Kleider aus der Effektenkammer zu holen. Die Essensration (Brot und Büchsenfleisch) soll für zwei Tage reichen. Hessel greift sich eine braune Jacke und eine Decke. All das geschieht in großem Chaos. Die Lagerpolizei schlägt wild auf das Menschengewimmel ein, ohne etwas auszurichten.
Als die fünf Freunde im Waggon sitzen, unter lauter Russen und deutschen Kapos, sind sie seltsam kostümiert. Sie tragen zufällig zusammengeraffte Kleidungsstücke. Der Zug rollt irgendwie nach Norden, vielleicht auch Nordwesten. Die Franzosen beschließen, aus dem Zug zu fliehen. Wir dürfen nicht auf die andere Seite der Elbe gebracht werden, denkt Stéphane. Am Boden des Waggons werden einige Bretter gelockert. Als der Zug im Dunkeln hält, lässt sich Stéphane nach draußen gleiten. In dem Augenblick fallen Schüsse, die aber nicht ihm gelten, wie die Kameraden glauben, die nun lieber im Waggon verharren. Stéphane bleibt neben den Schienen liegen, bis der Zug weitergefahren ist. Jetzt muss er alleine fliehen und auf sein Glück vertrauen.
Zunächst marschiert er die ganze Nacht lang in Richtung Süden (er hat den Polarstern geortet, die Zeit bei den Pfadfindern war nicht umsonst). Zwangsarbeiter aus Polen und Frankreich versorgen ihn mit Brot und Zivilkleidung. Er gelangt in ein Dorf irgendwo bei Celle, das kurz zuvor bombardiert wurde, geht in ein Haus, dessen Türen offen stehen. Die Bewohner scheinen fort zu sein, sind vielleicht in den Schutzbunker geflüchtet, denn auf dem Tisch stehen drei dampfende Tassen Schokolade und daneben eine Platte mit Tortenstücken, Sahnekuchen, Keksen mit Konfitüre. Wie im Siegestaumel, wie im Delirium schlingt Stéphane so viel hinunter, wie er schlucken kann, und läuft weiter auf der Landstraße, voller Freude, dass ihm auch das geglückt ist.
Er erreicht die Stadt Hannover, entdeckt dort keine Soldaten, dafür völlig verstörte Zivilisten. Die Wehrmacht hatuns im Stich gelassen, klagen sie, die SS ist auch weg. Stéphane hat eher Lust zu lachen, als sie zu trösten. Und wo sind denn die Amerikaner?, fragt er, den man wohl für einen Landsmann hält. Die stehen hinter dem Wald dort, zeigt man ihm. Und so findet er die Panzer mit dem Stern darauf.
Die Amerikaner befragen ihn, und er muss lange erklären, wer und was er ist. Französischer Deportierter? Und vorher in London? Wen kennen Sie da? Den General de Gaulle … ach ja? Ein Arzt untersucht ihn, rät ihm, nicht zu viel zu essen nach der langen Entbehrung, einen Apfel bestenfalls.
Stéphane bittet sie, mit ihnen marschieren zu dürfen. Er habe in diesem verdammten Krieg noch nicht einen Schuss abgegeben. Er bekommt eine amerikanische Uniform und heißt fortan »The French Captain«. In einem kleinen Ort allerdings vergessen die Amerikaner, ihn rechtzeitig zu wecken, und er unterschätzt, dass sein Erholungsbedürfnis mindestens so groß ist wie sein Kampfeswille. Der Ort wird von einer SS-Einheit zurückerobert. Man bringt den »Amerikaner« zum Sturmbannführer, der erklärt, dass die SS keine Gefangenen mache. Immerhin ist der Mann von Hessels Deutschkenntnissen
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