Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
alten Haus am Jardin du Luxembourg. Er verfügte über ein winziges Zimmer, in das Besucher eigentlich nicht hineinpassten. Die übrigen Mieter der Pension waren Studenten aus den USA, aus Irland, aus Skandinavien. Der ältere Herr nahm sich sonderbar aus in dieser jungen Gemeinschaft. Als eines Tages im Zimmer über dem seinen die Badewanne auslief, Wasser durch Boden und Wände sickerte und seine Möbel und Bücher beschädigt wurden, musste er umziehen und entschied sich für das Heim, das nahe bei der Wohnung seines Bruders lag. Man stieg kurz vor Ende der Métro-Linie 4 aus; der Name der Station »Mouton-Duvernet« schien mir gut zu Ulrichs sanfter Natur zu passen.
Im Jardin du Luxembourg hatte er mir das Karussell gezeigt, auf dem er sich als Kind vergnügt hatte, als seine Mutter 1925 der Liebe wegen von Berlin nach Paris gezogen war. Das Karussell war ebenjenes, das Rilkes Gedicht von 1906 inspiriert hatte (offiziell heißt es Manège Garnier und stammt aus dem Jahr 1896). Der einzige Elefant in der sich drehenden Tierschar war immer schon grau und niemals weiß. Für den reinen Dichter hatte alles die Farbe der Unschuld.Der kleine Ulrich Hessel hatte auf manchem Rücken aus der kleinen Tierschar unzählige Runden gedreht, er hatte auch versuchen müssen, mit einem Stock die Ringe aufzuspießen, die der Wärter den Kindern hinhielt. Wer drei Ringe erobert hatte, bekam eine Freifahrt, aber Ulrich mochte derlei Sportübungen gar nicht. Ihm genügte es, still auf seinem kreisenden Tier zu hocken und zu träumen.
Als ich ihm bei einem Besuch in seiner neuen Unterkunft erzählte, ich hätte in einem Nachruf gelesen, welch berühmter Autor vor ein paar Tagen in diesem Goldaltersheim verstorben war, zählte er gleich auf, wie viele andere große Namen hier lebten oder gelebt hatten, völlig diskret, versteht sich. Und so kam die Rede auf Samuel Beckett, der vor ihm das kleine Zimmer bewohnt hatte, das von einem Innenhof aus direkt zu betreten war. Nach dem Tod seiner Frau hatte Samuel Beckett die Wohnung in der Rue de la Santé aufgegeben (aus deren Fenstern er jeden Tag einem Häftling im gegenüberliegenden Gefängnis zugewinkt hatte – der fortan vergeblich auf den unbekannten Winker wartete, was er gewiss als Strafverschärfung empfand). Bis zu seinem eigenen Tod hatte Beckett in diesem Heim, in diesem Zimmer gelebt. Der mehrsprachige Autor legte sich gern in die Badewanne und ließ sich auch durch das Personal aufschrecken. Er soll nackt und mit weit ausgebreiteten Armen stundenlang dort gelegen haben, auch wenn eine Pflegerin den Raum betrat. Es habe nicht nach Schaustellung ausgesehen, sondern nach Opferpose, berichtete das Personal.
Ein Nachruf spielte auch eine Rolle, als ich Ulrich Hessel im März 1985 zum ersten Mal traf. Zwei Tage pro Woche begab er sich in das jüdische Dokumentationszentrum in einer stillen Seitenstraße, die unweit vom Pariser Rathaus direkt auf den Seine-Quai zulief. Im Centre de documentation juive, wie die sehr bescheidene Institution damals hieß (heute ist sie modernisiert und ausgebaut und nennt sichMémorial de la Shoah), half Ulrich Hessel, neu eingetroffene Fotos und Dokumente von den Gräueln des Weltkriegs und der Deportationen zu sortieren. Ich hörte ihn mit jemandem reden, bevor er mich begrüßte. Es ging um eine Person, die sehr krank und wohl nicht zu retten sei. Danach begrüßte er mich, wir wechselten einige Worte, verabredeten uns mit seinem Bruder für die nächsten Tage. Als ich später am Nachmittag, aus dem Salon du Livre kommend, die neueste Ausgabe von
Le Monde
kaufte, fand ich den Nachruf auf die Frau seines Bruders Stéphane, Vitia Hessel, im Hauptberuf Konferenzdolmetscherin, zudem Autorin von zwei Romanen. Nur von ihr konnte die Rede gewesen sein am Vormittag, was mir wie eine beängstigende Beschleunigung der Zeit vorkam.
Vitias Tod vereitelte die erste Begegnung mit Stéphane Hessel. Ein Treffen mit Ulrich und Stéphane und dessen zweiter Frau Christiane Chabry fand erst Anfang 1986 statt. Man ging in ein italienisches Restaurant im 15. Arrondissement, in dem mir ein sizilianisches Nudelgericht mit bitteren Kräutern gar nicht gut bekam. Es wurde viel geredet: über den Vater, den Schriftsteller Franz Hessel, die Mutter Helen, den französischen Freund der beiden, Henri-Pierre Roché.
Im Restaurant wurde es sehr laut, und wir redeten auf Deutsch. Beim Nachtisch kam die Rede auf das Lieblingsgedicht der Mutter,
Melusinens Lied
. Die Ballade von
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