Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
… Draußen lagen Mauerbruchstücke auf dem Bordstein. Eine Prozession von Silvestergästen bewegte sich Unter den Linden in beide Richtungen. Krankenwagen und Polizeiautos mit Sirenen und Blaulicht versuchten in Richtung Brandenburger Tor durchzukommen. Man ahnte, dass dort in der dichten Menschenmenge etwas passiert sein musste. Niemand wollte es als Menetekel für die kommenden Jahre verstehen. Die ausgelassene Stimmung hielt an. Am Bahnhof Friedrichstraße und später am Bahnhof Zoo musste man über eine Ansammlung schlafender Gestalten steigen, eine völlig irreale Szene. Berlin im Wahnsinn feierte den deutschen Spuk fast eines ganzen Jahrhunderts weg. Und der geborene Berliner und nunmehrige französische Diplomat Stéphane Hessel, der die Abgründe dieser Epoche erlebt und immer an die Zukunft geglaubt hatte, ist dabei gewesen.
Einige Jahre später, ein unvergesslicher Abend in der neuen französischen Botschaft am Pariser Platz: ein Essen zu Hessels Ehren, gegeben von dem Botschafter ClaudeMartin, den Stéphane einst am Quai d’Orsay ausgebildet hatte. Das Nachgespräch endete unvermeidlich mit einer Gedichtrezitation. Nach einigen Kostproben Apollinaire fragte Stéphane Hessel die chinesische Frau des Botschafters: »Und Sie, Madame, können Sie uns nicht ein kleines chinesisches Gedicht aufsagen?« Lachen, Schweigen, Verlegenheit. Schließlich hörten wir einen kurzen chinesischen Text, von dem natürlich niemand wissen konnte, ob es wirklich ein Liebesgedicht war oder ein Entenrezept oder die Gebrauchsanweisung für ein Haushaltsgerät. Bei jedem Auftritt musste Hessel ein Gedicht aufsagen, auch ohne dazu aufgefordert zu werden. Es war ihm eine Notwendigkeit und eine Mission, auch ein Beitrag zur Verschönerung der Welt.
1993 erschien mein Buch
Gesprungene Liebe. Die wahre Geschichte zu Jules und Jim
. Darin erzählte ich nicht nur die Geschichte der Eltern, sondern auch der Kinder und Erben dieser Geschichte, Uli und Kadi. Schließlich hatte dieses Privatereignis auch ihr Leben bestimmt.
Mein Buch wurde ins Französische, Italienische und Japanische übersetzt, brachte mich viel herum, von Berlin bis Sanary, von Jerusalem bis Osaka, von Paris bis Los Angeles – und führte dazu, dass ich Truffauts Film mindestens 50 Mal gesehen habe. Dabei ging mir auf, wie unterschiedlich die verschiedenen Versionen waren, vor allem in der deutschen Fassung: Jedes Mal fehlte eine andere Szene, oder es gab ein paar Einstellungen, die ich noch nicht kannte. Die Spieldauer variierte um mehrere Minuten. Auch fielen mir die sonderbaren Komplikationen im Drehbuch auf, die daraus resultierten, dass die Heldin im Film zu einer Französin mutiert war, während sie im Roman und im Leben doch eine Deutsche war, eben die Mutter von Ulrich und Stéphane Hessel. Doch Jeanne Moreau war großartig, sie dominierte den Film, und in bestimmten Augenblicken ähneltesie ungemein Helen Hessel, deren Briefe und Vorschläge den Regisseur gleichgültig ließen. Von der Geschichte der deutschen Emigranten wusste er nichts im Jahr 1962, aber auch in Deutschland war deren Schicksal weithin vergessen. Die erlebte Geschichte hinter dem Stoff zu
Jules und Jim
wartet noch auf ihre Verfilmung.
Geschichte einer Story
Dieulefit ist ein kleines Städtchen am Jabron, einem Nebenfluss der Rhône, mitten im Département Drôme, das nach der Besetzung Frankreichs im Juni 1940 zur italienischen Besatzungszone gehört. Ganz in der Nähe von Dieulefit, im oberen Geschoss des kleinen Schulgebäudes von Beauvallon, residiert Henri-Pierre Roché. Seine wertvolle Sammlung von Kunstwerken ist allerdings in der Pariser Wohnung am Boulevard Arago geblieben. Mit der Résistance hat Roché aber nichts zu tun. Er, der immer so unpolitisch war und 1914 als Spion verdächtigt wurde, entwickelt Sympathien für das Vichy-Regime, das ihm noch nicht einmal energisch genug ist. Roché reist nach Vichy, er schreibt Briefe an die dortigen Behörden, macht politische Vorschläge. Er macht auch unter den Schülern von Beauvallon ein wenig Propaganda für die Révolution Nationale. Gelegentlich trifft er Louis Aragon, Paul Éluard oder Pierre Emmanuel auf der Straße oder in Geschäften, er kennt sie schon aus den zwanziger Jahren. Dass sie für Untergrundpublikationen schreiben, weiß er nicht. Dieulefit ist auch zum Ausweichquartier der Schriftsteller im Widerstand geworden.
Am 20. April 1941 erfährt Roché, dass Anfang Januar in Sanary-sur-Mer Franz Hessel gestorben
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