Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Rudolf Borchardt wurde alsbald von den Brüdern aufgesagt, jeder übernahm abwechselnd eine Strophe. Die Nachbarn drehten sich um, wunderten sich über diese lärmenden Deutschen (dabei sagte ich gar nichts mehr, und die beiden Hessels waren ja Franzosen geworden). Leicht geniert, mit verdorbenem Magen und voller Bewunderung hörte ich zu. Und lernte einiges über die Hessels, über die Mutter, die sich wohl mit der Melusine identifizierte, und darüber, dass Poesie auswendig zu lernen ein Lieblingssport in der Familiewar, vor allem aber, dass ich es mit Menschen zu tun hatte, die auf ganz natürliche Weise eine literarische Aura ausstrahlten, selber halb mythische Figuren waren.
Gedichte waren ihr Lebenselixier. Sie kannten sogar ganze Theaterszenen auswendig, die sie mit verteilten Rollen dahersagten, auch das ein Spiel seit früher Jugend. Ihr Bravourstück war die erste Szene aus Molières
Le Misanthrope
, in der Stéphane den gefallsüchtigen und nachsichtigen Weltmann gab und Ulrich den Nörgler und Menschenfeind.
Auf den Spuren der Geschichte ihres Vaters Franz Hessel fand ich den Weg nach Sanary-sur-Mer, wo dieser Berliner Literat im Januar 1941 gestorben war. Es war Liebe auf den ersten Spaziergang: Sanary hat mich nicht mehr losgelassen.
Eine gute Bekannte in Paris, die Malerin Claude Bauret-Allard, half mir, den Weg zu Roché junior zu finden. Sie kannte den Sohn des Kunstsammlers und Autors, der den Roman
Jules et Jim
geschrieben hatte, eine Geschichte von Menschen, die glaubten, sie könnten sich wie Romanfiguren benehmen. Der einzige Sohn des Mannes, der die Frauen liebte, lebte im wilden Berg- und Waldland des Lubéron, wo er im Jahr 1985 eine freie Radiostation betrieb, wie sie nach der Liberalisierung des Radiogesetzes durch den neugewählten Präsidenten Mitterrand möglich geworden war. Im Übrigen war die Existenz dieses Sohnes der Grund für den Bruch des Dreierbundes, wie ich bald lernte.
Als ich vor der einsamen Villa aussteigen wollte, zischte neben dem Wagen eine Viper. Jean-Claude Roché, der gerade aus dem Haus kam, kehrte zurück ins Innere, während ich unentschlossen im Auto blieb. Aber statt mit einem Gewehr, wie ich erwartet hatte, erschien er mit einer Parabolantenne und einem Rekorder. Er richtete die Antenne auf die Viper, nahm deren zischende Laute auf und scheuchte danach das hartnäckige Tier, das seinen Platz an der Sonnenicht aufgeben wollte, in die Büsche. So erfuhr ich gleich, was der Sohn des großen Frauenhelden von Beruf war. Er nahm Tierstimmen auf, vor allem Vogelstimmen, und verkaufte weltweit Audiokassetten. Seine Kunden fand er vor allem in Deutschland, Japan und den USA, aber auch der Komponist Olivier Messiaen ließ sich von diesen Aufnahmen für seine Kompositionen inspirieren.
Man führte mich durch das Haus, das einen leicht verkommenen Eindruck machte. Der Swimmingpool unter einem Glasdach und mit Palmen ringsum war ein trüber Tümpel geworden, in dem exotische Frösche quakten, deren Laute gewiss alle schon mitgeschnitten worden waren. Das Haus mit den großen Glasfassaden, durch die man in die dichte Wildnis blickte, hatte etwas Unheimliches. Ein Schauplatz für einen Hitchcock-Film, dachte ich.
Eine Woche lang erschien ich jeden Tag im Haus von Roché junior und las die intimen Tagebücher von Roché senior. Ich saß an einem winzigen Campingtisch. Zum Glück stand ein Kopiergerät in der Garage, zuvor das Studio der privaten Radiostation, die ihren Sendebetrieb längst wieder eingestellt hatte. Ich erfuhr alles über Rochés zahllose Liebeseskapaden, seine parallel geführten Beziehungen, seine systematische Liebesjagd. Ich schwankte zwischen der Lust des Voyeurs und dem Schock des Biographen.
Am vorletzten Tag meines Aufenthalts wurde ein schönerer Tisch aufgestellt, und bald darauf zogen Scharen von Besuchern durch die Villa, kamen auch in die Garage, grüßten mich betont freundlich, als wüssten sie, wer ich sei. Allmählich begriff ich, dass es Interessenten für das Haus waren, das offensichtlich verkauft werden sollte. Ich gehörte nicht zum Inventar, ich hatte mich nur eingenistet an diesem abgelegenen Ort, vertiefte mich in die Dokumente eines fremden Lebens, von dem ich erzählen wollte. Das wurde in den nächsten Jahren mein Beruf. »Deutsche Lebensläufe in Frankreich«. Zu den Büchern, die auf diese Weise entstanden,gehörte auch
Gesprungene Liebe. Die wahre Geschichte zu Jules und Jim
.
Im April 1987 traten Stéphane und
Weitere Kostenlose Bücher