Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Ulrich Hessel an der Freien Universität Berlin auf, an der ich damals noch lehrte. Ich hatte – gewissermaßen als Gegenprogramm zur Berliner 750-Jahr-Feier – eine Ringvorlesung über die aus Berlin Vertriebenen organisiert mit dem Titel »Paris als Utopie und als Exil«. Allerdings gab es doch offizielle Unterstützung, denn einige Gäste, wie auch die Hessels, profitierten von einem Programm des Senats im Westen der Stadt, mit dem ehemalige Berliner zu einem Versöhnungsbesuch eingeladen wurden.
400 Hörer erwarteten die Hessels im großen Hörsaal 1, der sogenannten Rostlaube. Stéphane war schon einige Male in Deutschland gewesen, auch wenn seine berufliche Tätigkeit sich meist draußen in der weiten Welt abspielte, aber für Ulrich war es das erste Mal seit 1937, also seit genau 50 Jahren! Einen Tag vor dem Termin ging mir auf, dass es für den leicht behinderten Mann ein großer emotionaler Stress sein müsse. Und so waren an dem Abend auch zwei Ärzte im Saal. Es war ein großer Augenblick und vielleicht so etwas wie der Anfang von Stéphane Hessels öffentlicher Karriere als Zeitzeuge.
Mein Kontakt mit den Hessels wurde in der folgenden Zeit regelmäßig. Ulrich sah ich häufiger, denn Stéphane reiste unablässig um die Welt. So kam ich mit meiner Arbeit am Buch gut voran.
Ende Dezember 1989 kam Stéphane Hessel wieder nach Berlin, nun mitsamt seiner zweiten Frau Christiane Hessel Chabry, die er bereits 1951 in Genf kennengelernt hatte. Sie hat viele Jahre in der Zentrale von Air France gearbeitet. Mitte Dezember war ich in Paris gewesen und hatte so begeistert von der Atmosphäre nach dem Mauerfall berichtet,dass die Hessels spontan beschlossen, sich einmal anzusehen, was denn dort los war.
Am 30. Dezember tranken wir gemeinsam Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, etwas später kaufte ich an einem Stand vor dem KaDeWe sechs Pfannkuchen (außerhalb von Berlin »Berliner« genannt, in Paris »boules berlinoises«), die ich in einem kleinen Karton vor mir hertrug. Wir fuhren zum Grenzübergang am Checkpoint Charly, dem Übergang für Ausländer, aber dort ließ man mich als Westberliner nicht passieren (es gab eben noch Kontrollen um diese Zeit, wenn auch nun alles willkürlich geschah); also fuhren wir mit der U-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße, wo ich als Westberliner passieren durfte, aber nicht die Hessels, die mit Diplomatenpässen reisten. Wir hatten keine Lust, umzukehren, DDR-Grenzen konnten einen längst nicht mehr einschüchtern, und so übernahm der erfahrene Diplomat Stéphane Hessel die Verhandlungen. Die uniformierten Herren zogen sich zu einer Beratung zurück, vielleicht haben sie mit Gorbatschow telefoniert oder mit dem Weltgeist, jedenfalls fanden sie die originelle Lösung, einen Diplomatenübergang zu öffnen (einen dieser sperrholzartigen Passierschränke), aber nur für dieses eine Mal, diesen einen Fall (sonst wäre noch eine internationale Krise daraus geworden). Ich selbst musste durch einen anderen Schrank passieren. Das Rote Preußen trat seinen Rückzug in bester Ordnung an.
Später spazierten wir Unter den Linden entlang, besuchten die französische Botschafterin in der DDR in ihrer Residenz im dritten Stock eines mächtigen Gebäudes an der Ecke zur Neustädtischen Kirchstraße. Ich trug immer noch das Päckchen mit Pfannkuchen mit mir herum, aber weder vor dem Gebäude noch vor der Tür der Wohnung, die als Botschaft diente, wurde mein Päckchen kontrolliert. Im Flur und in den vielen Zimmern der Botschaft standen Unmengen großer Kisten, Reste vielleicht vom Staatsbesuchdes Präsidenten Mitterrand wenige Tage zuvor in der untergehenden Republik. Die Botschafterin entschuldigte sich für die Unordnung, aber das schien zu dem Trubel dieser Ausnahmetage zu passen.
Am 31. Dezember gingen wir wieder in den Osten, dieses Mal ohne Belästigung durch Grenzer, am Brandenburger Tor drängte sich eine dichte Menge durch die kurz vor Weihnachten geöffnete Lücke in der Mauer, so dicht, dass jeder Kontrollversuch scheitern musste. Später feierten wir Silvester mit einer Zufallsgruppe von Menschen aus Ost und West. Im neuen Jahr um drei Uhr in der Früh kam der Rest der Feiergesellschaft in einen dicht gefüllten Seitentrakt des Berliner Doms, gegenüber vom Palast der Republik. Ein im Gedränge unsichtbarer spontaner Damenchor sang und summte allerlei fromme und unfromme Lieder. We shall overcome … Sag mir, wo die Blumen sind … Let my people go
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