Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
nur eine jeweils neue Situation, auf die man reagieren müsse. Dass es der antreibenden Kraft der Hoffnung bedürfe – darin waren sich beide einig.
Wie sehr Hessel in das Alltagsbewusstsein eingegangen ist, zeigt sich daran, dass man im Herbst 2011 in der Métro-Linie 4, jener, die auch Stéphane Hessel regelmäßig nimmt, ein Zitat von ihm platziert hatte, wo sonst Verse oder Liedzeilen prangen: »Quand on est jeune on n’a pas envie de rester caché, on veut se battre.« (Wenn man jung ist, hat man keine Lust, sich zu verstecken, sondern will kämpfen.) Unter dem Patronat des Senders Arte wurde er hier als großer europäischer Widerständler präsentiert. Er ist eine etablierte Bezugsperson, ein Name, den man nicht weiter erklären muss.
Erfolg und Kritik, Ehrungen und Anzeigen hat der Siegeszug der kleinen Broschüre dem Verfasser eingetragen. Selten hat jemand mit so einfachen Mitteln eine so große Wirkung erzielt. Kein Schriftsteller, kein Schauspieler, kein Intellektueller, kein ehemaliger Staatsmann war über Monate hinweg so präsent in den Medien wie er. Aber kaum jemand wurde auch so angefeindet. Es wurde sogar Anzeige gegen ihn wegen angeblichen Aufrufs zur Rassendiskriminierung erstattet (eine ziemlich böswillige Deutung).
Sogar ein Konzert zu seinen Ehren wurde veranstaltet, im Französischen Kulturinstitut in London, am 11. Oktober 2011. In der Einladung wurde er als »außergewöhnlicheeuropäische Persönlichkeit und Held der gaullistischen Résistance« gewürdigt. Das Programm war beinahe ein politisches Statement: die Violonistin Clara Cernat und der Pianist Thierry Huillet spielten die
Hebräische Suite
von Ernest Bloch, Tschaikowskys
Melancholische Serenade Opus 26
,
Danse Macabre
von Camille Saint-Saëns, aber auch ein von Thierry Huillet komponiertes Violinsolo mit dem Titel
Metta
, das er dem Frieden im Nahen Osten gewidmet hatte. Der Abend endete mit Klängen von Smetana (
Mein Vaterland
). Allerdings war der Abend angekündigt als Unterstützung für Palästina und für das Russell-Tribunal zur Lage in und um Israel, in dem sich Stéphane Hessel engagiert. Die Disharmonie war unter so viel Harmonie verborgen.
Auch seine Geburtsstadt Berlin hat ihn geehrt: Am 29. November 2011 erhielt er den Prix de l’Académie de Berlin, verliehen von einer privaten Vereinigung, die man in Paris »Club« nennen würde, getragen von Sponsoren wie der Robert-Bosch-Stiftung. In einer launigen Feier an einem überraschend blauen, lauen Novembertag wurde er als Mittler zwischen Frankreich und Deutschland ausgezeichnet. Aus dem Saal der Akademie der Künste blickte man durch die große Glasfront hinüber zum Brandenburger Tor, zum Reichstag und vis-à-vis zur französischen Botschaft, die am historischen Ort neu errichtet wurde. Selten war ein so intensives Gefühl von erlebter und durchdachter Geschichte präsent wie in diesem deutsch-französischen Augenblick am Pariser Platz im Herzen von Berlin.
Ein solch maßloser Erfolg, der sich gleichsam vom Urheber löst und verselbständigt, konnte nicht ohne Gegenreaktion bleiben. Sicherlich gibt es manches zu sagen über Hessels Intervention in Sachen Israel. Das Thema ist brisant, ist in Frankreich wohl noch mehr als in Deutschland hoch emotional besetzt.
Aber vielleicht sollten seine Kritiker, statt mit reichlich schematischen Antisemitismus-Vorwürfen oder gar mit Verschwörungstheorien zu operieren und ihn mit finsteren Machenschaften in Verbindung zu bringen, sich überlegen, wie denn von Israels Politik die Rede sein soll. Genügt es, zu sagen, dass man prinzipiell Israel zwar kritisieren könne, im konkreten Fall Kritik aber immer unwillkommen ist? Gibt denn die Politik der letzten israelischen Regierungen nicht sogar den Verbündeten große Rätsel auf? Gibt es nicht Dinge, Ereignisse, Tendenzen, die, gelinde gesagt, unverständlich sind? Ist denn nicht unklar geworden, worin eigentlich die politischen Ziele bestehen? Überdies ist das Elend der Palästinenser real und keine Propaganda-Schimäre von Feinden Israels. Es fehlt derzeit an gutem Willen auf beiden Seiten, so sieht es für den Betrachter aus der Ferne aus.
Stéphane Hessel redet von Dingen, die er kennt, die er seit langem beobachtet hat. Er, der mit Konflikten in aller Welt und mit schwierigen Verhandlungen Erfahrungen sammeln konnte, hat sich mehrfach in der Region umgesehen, hat dabei weder Müdigkeit noch Alter vorgeschützt, und das hat er den meisten seiner Kritiker
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