Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Sphäre, er hat alles schon hinter sich, aber er ist weder enttäuscht noch verbittert. Er hat eine urtümliche und fundamentale Zuversicht, als wüsste er von einer Kraft, von einem Grund, dem man vertrauen kann. Es ist der Glaube an den Menschen.
In dem Sinne ist er ein Prophet von der alttestamentarischen Sorte, denn er kündigt auch Unheil an, sollte man nicht auf die Signale hören. Er ist ein Warner und Mahner zur Umkehr angesichts großer Gefahren, der zugleich zu einer emblematischen Figur wird, die tief in der Vergangenheit wurzelt und weit in die Zukunft blickt. Für sein eigenes Leben sagt Stéphane Hessel: »Ich blicke gern auf alles zurück, auch auf die unguten Momente, denn sie haben einen ja schließlich weitergebracht.« Und der Tod? Er habe nie Angst vor dem Tod gehabt, sagt er, nur die Furcht, jetzt kommt vielleicht der Tod, und warum denn jetzt, das sei ja in seinem Leben öfter möglich gewesen. Eher empfinde er eine Art Neugier, so wie man im Leben auf alles neugierig sein müsse.
Aber was kann er bewirken? Die Gestalt des Mittlers ist für Stéphane Hessel seit jeher eine wichtige Figur. Als Diplomat erreicht man nicht viel und nur wenig auf Dauer,hat er einmal gesagt. Seine Autobiographie
Tanz mit dem Jahrhundert
endet mit dem Satz: »Es gibt keine gelungene Vermittlung. Eine jede eröffnet jedoch, gerade ob ihres Scheiterns, den Weg zu einer nächsten, weiter gesteckten, die ihrerseits scheitern wird.« Anderswo sprach er von der Melancholie des Diplomaten. Das hört sich beinahe nach Beckett an: versuchen, scheitern, wieder versuchen, besser scheitern … So war es im Fall seines Engagements für die »sans-papiers«. Aber erreicht der Aufrührer mehr als der Mittler?
Bei einem unserer Gespräche fragte ich ihn: »Stehst du auf der Seite von Richelieu oder bei den Musketieren? Stehst du auf der Seite der Abenteurer oder auf Seiten des großen Staatsmannes, der manchmal auch zu unfeinen Mitteln greift?« Er wollte spontan antworten: Natürlich bei den Musketieren, den sympathischen Rebellen, die vielerlei durchmachen, aber nie untergehen, doch auch nie gewinnen können, da sie einen übermächtigen Gegner haben (weshalb der Roman von Dumas immer weiter fortgesetzt werden konnte). Hier die Bravour, die Tapferkeit, auch Verschlagenheit und Großsprecherei,
le panache
, der Schneid, aber auch der Verlust, der Genuss, die flüchtige Liebe, die unerfüllbare Hoffnung, der Kampf um Anerkennung. Und dort die staatsmännische Weitsicht, die vor keinem unlauteren Mittel zurückschreckt und die doch (ganz hegelianisch) im Dienste einer höheren Moral steht. Was entscheidet, Herz oder Verstand?
Doch zwei Seelen schlagen in seiner Brust: Stéphane Hessel ist Rebell, war aber auch Staatsdiener. Er verteidigt durchaus die traditionelle Diplomatie, die ihre Berechtigung hat, und er ist nicht einverstanden mit Wikileaks und anderem Piratentum, weil er weiß, dass sie zur Konfliktlösung nötig ist. Aber er ist unabhängig genug, dem geistigen Freibeutertum nicht abzuschwören. Man muss jederzeit dazu bereit sein, wenn die höheren Instanzen versagen.
Das Schlimmste, der absolute Kältepunkt des Menschlichen: die Negation des Menschen. Das ist das Wesen des Nazismus, Stéphane Hessel hat es erlebt, auch wenn er nicht in einem Vernichtungslager war. Daran gemessen ist es überall anders wärmer.
Une saison en enfer
heißt ein Gedichtzyklus von Arthur Rimbaud. Stéphane Hessel hat etwas in dieser Art erlebt, doch bei ihm ist es keine Metapher geblieben. Er hat die Saison in der Hölle auch mit Hilfe der Poesie überstanden. Die Poesie stand für alles, was an Würde in ihm unzerstörbar war. Diese eine Saison in der Hölle war der Einschnitt in seinem Leben und eine prägende Erfahrung, eine
coupure
, wie man auf Französisch sagt. Nicht nur die Zukunft hatte sich danach verändert, auch die Vergangenheit, die persönliche Erinnerung, auch die Vorgeschichte der Eltern. Und das gilt auch, nachdem so spät in seinem Leben sein Stern weltweit aufgegangen ist.
Immerhin war es ihm gelungen, sich selbst zu befreien, nicht nur durch die glückliche Flucht aus dem Zug im April 1945, auch durch sein vielfältiges Leben danach und erst recht nach seiner »Karriere«. Im Grunde war sein ganzes Leben bis hierher ein endloser Bildungsroman. Es scheint, als habe er alles selbst gewählt, als habe er sich nie zum Objekt machen lassen, zum Spielball; immer hat er die Initiative ergriffen, vom ersten Augenblick
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